Arbeitszeiterfassung: Gesetzesentwurf sorgt für Unruhe

Wanduhr

Die Bundesregierung reformiert das Arbeitszeitgesetz. Die elektronische Arbeitszeiterfassung wird für Arbeitgeber zur Pflicht. Sie müssen zukünftig Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit ihrer Beschäftigten jeweils am Tag der Arbeitsleistung elektronisch aufzeichnen.

Auf den Entwurf, der in dieser Woche aus dem Bundesarbeitsministerium bekannt wurde, war lange Zeit gewartet worden, denn Deutschland muss ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus dem Jahr 2019 (C-55/18) sowie eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) gesetzlich umsetzen. Das höchste Arbeitsgericht hatte das sogenannte Stechuhrurteil aus Luxemburg 2022 bestätigt (5 AZR 359/21) und geurteilt, dass Arbeitgeber in Deutschland verpflichtet werden müssen, ein “objektives, verlässliches und zugängliches System” einzuführen, mit dem die täglich geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann.

Nicht erfasste Überstunden sind ein Problem

Irrtümer und Mythen rund ums ArbeitsrechtKlar war: Der Gesetzesentwurf würde es in sich haben. Und das hat er auch, besonders für Unternehmen, die das Modell der sogenannten Vertrauensarbeitszeit nutzen. Hier nämlich findet eine Aufzeichnung und Kontrolle der geleisteten Arbeitszeit durch den Arbeitgeber in der Regel nicht statt. Allerdings waren auch solche Unternehmen nach dem Betriebsverfassungsgesetz schon immer dazu verpflichtet, geleistete Überstunden zu erfassen. Sie taten es allerdings selten, was immer wieder zu Streit mit Betriebs- und Personalräten führte. Denn nicht erfasste Überstunden und Mehrarbeit sind ein Problem. Nicht nur, weil die Mehrarbeit dann meist weder ausgeglichen noch bezahlt wird, sondern auch, wenn es um den Gesundheitsschutz der Beschäftigten geht.

Wie verbreitet Vertrauensarbeitszeit in Deutschland tatsächlich ist, darüber gibt es keine validen Daten. ​​Einerseits liegt dies an der fehlenden Definition, denn in vielen Betrieben ist nicht von Vertrauensarbeitszeit, sondern von flexibler Arbeitszeit oder Gleitzeit die Rede. Auch gibt es auch Firmen, in denen Beschäftigte Gleitzeit arbeiten. Also in einem bestimmten Rahmen flexibel kommen und gehen können, aber dennoch die Arbeitszeit dokumentieren. Ferner gibt es Arbeitgeber, in denen verschiedene Modelle praktiziert werden: Während Mitarbeitende in der Produktion, in der Schichtarbeit, ihre Arbeitszeit beim Betreten und Verlassen der Betriebsstätte erfassen, arbeiten ihre Kolleginnen und Kollegen aus dem Büro mobil und haben Vertrauensarbeitszeit.

Bekannt ist wohl nur die Spitze des Eisbergs

Eine Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2018 kam zu dem Ergebnis, dass im Jahr 2004 etwa 14 Prozent aller Betriebe Vertrauensarbeitszeit angeboten haben, 2016 war es schon fast ein Drittel der Arbeitgeber. Einer neuen Umfrage des Digitalverbands Bitkoms zufolge erfassen 41 Prozent der Unternehmen in Deutschland dabei die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten noch nicht.

Laut Daten des Statistischen Bundesamts, das immerhin über Zahlen zu den erfassten Überstunden in Deutschland verfügt, haben im Jahr 2021 4,5 Millionen Beschäftigte mehr gearbeitet als vertraglich eigentlich vorgesehen war – was zwölf Prozent der Beschäftigten bedeutet. Neuere Daten hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in seiner Arbeitszeitrechnung, die auch den Statistiken zum Arbeitseinsatz in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen zugrundeliegt. Demnach leisteten die Beschäftigten in Deutschland 2022 583 Millionen Überstunden, die erfasst und bezahlt sowie 702 Millionen Überstunden, die erfasst, aber nicht vergütet wurden. Am weitesten verbreitet war die Mehrarbeit in der Finanz- und Versicherungsbranche, wo gut ein Fünftel der Beschäftigten (19 Prozent) regelmäßig mehr arbeitet als vorgesehen. Ähnlich hoch ist der Anteil der Mehrarbeit in der Energieversorgung (18 Prozent), so das Statistische Bundesamt.

Mit dem Arbeitskräftemangel steigt die Arbeitsintensität

Wie groß aber das tatsächliche Ausmaß der nicht erfassten Überstunden ist, dürfte erst offenbar werden, wenn denn alle Betriebe die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten noch am gleichen Tag dokumentieren müssen. Gut möglich ist, dass in der Arbeitszeitrechnung dann die Zahl der Überstunden noch einmal stark steigen wird. Ob die Beschäftigten dann aber bessere Kompensationen für ihre geleistete Mehrarbeit erhalten werden, ist fraglich. Zwar müssen Überstunden nach dem Arbeitszeitgesetz schon heute zeitnah wenigstens ausgeglichen werden – das ergibt sich indirekt aus § 3 des Arbeitszeitgesetzes. Tatsächlich ist es für Mitarbeitende aber oft schwer, dieses Recht auch einzufordern, vor allem in Betrieben ohne Betriebs- oder Personalrat. Und das sind die allermeisten Firmen in Deutschland. Denn nicht einmal jeder zweiter Betrieb in Deutschland hat eine Arbeitnehmervertretung – in den vergangenen Jahren ist die Zahl sogar rückläufig, wie Daten des Statistischen Bundesamts zeigen.

Zudem dürfte in vielen Unternehmen darüber gestritten werden, was eigentlich genau als Arbeit zählt. Aus diesem Grund streiten nicht nur Juristinnen und Juristen, sondern auch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände seit Monaten erbittert über die Frage, wie die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung denn praktisch umgesetzt werden kann. Ohne dass sie zum bürokratischen Monster wird, oder für Schikane sowie Leistungs- und Verhaltenskontrollen missbraucht wird. Gewerkschaften fordern zwar die Zeiterfassung. Aber eben nur, um damit den Gesundheitsschutz und vor allem die Pausen sowie den Ausgleich einhalten zu können. Nicht vergessen werden darf hier: Burnout ist quasi eine Volkskrankheit. In unzähligen Branchen fühlen sich Beschäftigte ausgelaugt und erschöpft. Vor allem auch, weil die Arbeit mit dem Arbeitskräftemangel mehr und nicht weniger wird und die Arbeitsintensität zunehmend steigt.

Auch eine Frage des Beschäftigtendatenschutz

Die Arbeitszeit elektronisch zu erfassen, ist allerdings nicht nur eine Frage des Gesundheits-, sondern auch eine des Datenschutzes und der Datensicherheit. Wo die Daten genau gespeichert werden und wer auf sie zugreifen darf, muss genau geregelt sein. Auf keinen Fall darf die Arbeitszeiterfassung zur Leistungskontrolle missbraucht werden – es ist also ein Balanceakt.

Allerdings sieht der Gesetzentwurf auch weiterhin eine Ausnahmeregelung vor. Für Tätigkeiten, in denen “wegen der besonderen Merkmale der ausgeübten Tätigkeit die Arbeitzeit nicht gemessen oder nicht im Voraus festgelegt wird oder von den Arbeitnehmern selbst festgelegt werden kann”, können Arbeitgeber von der Dokumentationspflicht abrücken und weiterhin Vertrauensarbeitszeit praktizieren. Aber nur, wenn ein Tarifvertrag dies vorsieht oder aber ein Tarifvertrag entsprechende Betriebs- und Dienstvereinbarungen erlaubt. Der Passus ist eine sogenannte Tariföffnungsklausel, welche die betriebliche Mitbestimmung stärkt. Und gegen die Wirtschaftsvertreter Sturm laufen, immerhin hatten vor allem Arbeitgeberverbände auf mehr Zugeständnisse bei der Vertrauensarbeitszeit gehofft.

“Der Arbeitszeitentwurf aus dem Arbeitsministerium ist leider kein Modell von Morgen”, kritisiert etwa Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger und fordert, dass die Vertrauensarbeitszeit unbedingt geschützt werden müsse. Ohne diese Möglichkeit sei auch mobiles Arbeiten nicht denkbar. “Arbeitszeit kann vielfältig ausgestaltet werden. Dort, wo es betrieblich möglich ist, wird das auch heute schon gelebt. In vielen Branchen kann mit Instrumenten wie Arbeitszeitkonten und einer lebensphasenorientierten Arbeitszeitgestaltung die Arbeitszeit flexibel verteilt werden.” Auch aus der CDU kommt Kritik. Unionsfraktionsvize Hermann Gröhe (CDU) sieht gleich beide Seiten – Beschäftigte wie Arbeitgeber – durch den Entwurf gegängelt. Die Pläne verengten die Spielräume bei der Vertrauensarbeitszeit, “die besonders in der heutigen Zeit von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gewünscht und gebraucht werden”.

Beobachter erwarten ein Tauziehen

Geht es nach Arbeitsminister Hubertus Heil würde die Gesetzesänderung schon zum Juli 2023 in Kraft treten. Doch dieser Zeitplan dürfte kaum zu halten sein. Derzeit geht der Entwurf in die Ressortabstimmung. Vor allem die Gewerkschaften befürchten, dass die Arbeitgeber dann noch Einfluss nehmen könnten und die Regelungen – vor allem die für die Ausnahme bei der Vertrauensarbeitszeit – wieder aufweichen. Den Arbeitgebern dürfte es aber auch noch um eine andere Sache gehen: Neue Möglichkeiten schaffen, um Höchstarbeitszeiten und Ruhezeiten zu verändern. Denn die Arbeitgeberverbände fordern schon seit vielen Jahren, dass die gesetzlich verankerten Ruhezeiten abgeschafft und nur noch die Regelungen aus der europäischen Arbeitszeitrichtlinie gelten sollen. Dann würde nur noch der Rahmen von 48 Stunden als Höchstmaß in der Woche gelten – und keine vorgeschriebene Ruhepause von elf Stunden zwischen zwei Einsätzen.

Beobachter erwarten noch ein Tauziehen – und den Versuch, eines Kuhhandels. Der könnte Insidern zufolge wie folgt aussehen: Die Arbeitgeber verzichten auf eine Aufweichung der gesetzlichen Ruhepausen und bekommen dafür mehr Spielraum bei der Vertrauensarbeitszeit. So oder so soll dann aber das Recht für jeden Beschäftigten bestehen bleiben, die eigene Arbeitszeit aufzuschreiben. Der Arbeitgeber müsste sie dann aber nicht kontrollieren.

 


 

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Tina Groll

Tina Groll arbeitet hauptberuflich als Redakteurin bei ZEIT ONLINE im Ressort Politik & Wirtschaft. 2008 zeichnete sie das Medium Magazin als eine der “Top 30 Journalisten unter 30 Jahren“ aus. Sie ist Mitglied im Deutschen Presserat sowie als Vorsitzende der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union tätig. Als Autorin von WIR SIND DER WANDEL beschäftigt sie sich mit der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Gesundheitspolitik.