Bescheidenheit führt in Sackgasse

Straßenschild Dead End

Nette Menschen neigen zur Bescheidenheit. Sie stecken in Teams zurück und verzichten auf wohlklingende Titel. Warum allzu viel Bescheidenheit in die Karriere-Sackgasse führen kann, weiß Karriereberater Martin Wehrle.

Ein Gastbeitrag von Martin Wehrle

Begegnen sich zwei Firmenvertreter, verhalten sie sich nicht selten wie Westernhelden. Statt ihre Colts, ziehen sie jedoch ihre Visitenkarten: Nicht „Verkäufer“ steht dort, sondern „Sales Manager“; nicht „Grafiker“, sondern „Art Director“; nicht „Kundenbetreuer“, sondern „Account Executive“. Das klingt enorm wichtig – und so soll es auch sein.

Nette Menschen hingegen hassen solche Statusspiele. „Ich definiere mich nicht über meine Visitenkarte“, sagte Adrian Horvat (29) in meiner Beratung. Sein Chef hatte ihm den Titel „Key Account Manager“ angeboten, er jedoch abgelehnt. „Was hätte ich davon? Ich mache nach wie vor denselben Job, das wäre Aufschneiderei.“ Ich fragte: „All Ihre Kollegen nennen sich auch ‚Kundenbetreuer‘, keiner ‚Key Account Manager‘?“ – „Doch, doch, es gibt ein paar Oberwichtige, die unserem Chef diesen Titel aus den Rippen geleiert haben. Nur deshalb hat er ihn mir angeboten, vermutlich aus Gründen der Gleichbehandlung. Aber ich habe das nicht nötig.“

Bescheidenheit verbaut den Weg

Auf meine Frage, was ihn an der Bezeichnung ‚Key Account Manager‘ störe, sagte Horvat: „Alles! Ich betreue nach wie vor auch kleine Kunden. Und ich bin ihr Ansprechpartner für ganz alltäglichen Kram – also weit entfernt von der Bezeichnung ‚Manager‘.“ Zugleich räumte er ein, dass seine Kollegen diesen Titel genauso wenig verdient hätten wie er selbst.

Ich fuhr fort: „Nun stelle ich mir gerade vor, dass Sie bei einer Sitzung neue Kunden treffen. Und jetzt überreichen einige Kollegen ihre ‚Manager‘-Visitenkarten. Und dann Sie Ihre als ‚Kundenbetreuer‘. Käme Ihnen das nicht merkwürdig vor?“ Er verzog sein Gesicht. „Soll ich jetzt zum Hochstapler werden, nur weil die anderen es sind?“ – „Nein, aber Sie könnten sich fragen: ‚Welche Signalwirkung hat mein Titel? Warum reagiere ich auf das Wort Manager so allergisch? Und inwieweit verbaut mir meine Bescheidenheit den Weg?‘“

Hochstapler-Syndrom

Es dauerte eine knappe Stunde, bis wir herausgefunden hatten, was Horvat am meisten bremste: die Vorstellung, zu hohe Erwartungen auf sich zu ziehen. Zum Beispiel malte er sich aus, dass Kunden von ihm Rabatte und Vorteile erwarteten, die er als Kundenbetreuer gar nicht gewähren konnte. Und der Gedanke, im Freundeskreis als „Key Account Manager“ zu gelten, war ihm extrem peinlich: „Die meisten meiner Freunde sind Handwerker. Die würden sagen: ‚Manager‘ nennt er sich jetzt? Will er uns sagen, dass er es zu mehr gebracht hat als wir?‘“

Viele nette Menschen kämpfen mit diesem Problem, es hat sogar einen wissenschaftlichen Namen: Hochstapler-Syndrom. Sie steigen auf in eine wichtige Position oder verkehren mit bedeutenden Leuten, aber ihr innere Kritiker flüstert ihnen: „Die merken schon noch, dass du der Sache nicht gewachsen bist! Du gehörst nicht in diese Position, nicht in diese Kreise!“

Dann sitzen sie in einer wichtigen Position, ohne sie auszufüllen. Dann haben sie neue Rechte, etwa Arbeit zu delegieren, aber bleiben im alten Verhalten hängen und machen alles selber. Dann spielen sie Führungskraft, ohne es innerlich zu sein.

Titel und Beförderungen ablehnen

Andere Nette beugen diesem Problem vor, indem sie bewusst darauf verzichten, sich auf exponierte Positionen zu bewerben. Sie heben nie den Finger, wenn ein spannendes Projekt zu vergeben ist. Sie lehnen Titel und Beförderungen ab, weil sie unbedingt in der zweiten Reihe bleiben wollen. Und die Rednereinladung zum Kongress geben sie an eine Kollegin weiter, die sich nicht mit Bescheidenheit aufhält.

Ich kenne sogar promovierte Mitarbeitende – meist sind es Frauen! –, die ihren Doktortitel in der Signatur verschweigen oder bei der Selbstpräsentation allenfalls flüstern. Als wäre die Promotion kein offizieller Bestandteil des Namens, sondern ein arrogantes Winken vom hohen Ross, das alle titellosen Mitmenschen provoziert.

Nette Menschen fühlen sich oft von anderen überschätzt. Und warum? Weil sie sich selbst unterschätzen. Und diese Selbstzweifel projizieren sie nach außen. Weil Horvat selbst meinte, der Manager-Titel sei für ihn eine Nummer zu groß, fürchtete er, Kunden und Freunde könnten ins selbe Horn stoßen.

Blick durch die Brille anderer

Wie kann es gelingen, die eigenen Qualitäten mit mehr Distanz zu sehen? Adrian Horvat lud ich zu folgender Übung ein: Ich stellte mehrere Stühle in den Raum, auf jeden durfte er ein Pappschild mit dem Namen eines Kollegen, Vorgesetzten oder Freundes kleben. Dann nahm er auf den einzelnen Stühlen Platz, fand sich in die jeweilige Rolle ein und wurde von mir zu sich, dem Kollegen, Mitarbeiter oder Freund Adrian Horvat, interviewt. Zum Beispiel fragte ich ihn, als er die Rolle seines Chefs bekleidete: „Warum ist es für Herrn Horvat wichtig, dass er den Titel ‚Key Account Manager‘ annimmt?“, „Welche Signalwirkung hat dieser Titel, intern und extern?“, „Welche Management-Elemente sind in seiner heutigen Arbeit schon enthalten?“, „Inwiefern hebt er sich positiv von seinen Kollegen ab?“ und „Welche seiner Qualitäten schätzen Sie am meisten?“

Aus der Perspektive der anderen legte Horvat seine übertriebene Bescheidenheit ab. Es gelang ihm, den Titel in einem neuen Licht zu sehen. Er räumte ein, dass ein Verzicht schlecht für seinen Rang in der Gruppe und gegenüber den Kunden wäre. Zugleich half ihm die Rolle des Chefs, seine Arbeitsleistung mehr zu würdigen. Überrascht fiel ihm auf, wie viele Management-Tätigkeiten seine Aufgabe bereits enthielt, so koordinierte er die Zusammenarbeit mit der Produktentwicklung und nahm wichtige organisatorische Aufgaben wahr.

Erst als er sich und seine Arbeit mehrfach durch die Brille anderer gesehen hatte, fiel der Hochstapler-Komplex von ihm ab: Er war nun überzeugt davon, diesen Titel wirklich zu verdienen. Und nahm ihn endlich an.

Dieser Artikel stammt aus Martin Wehrles gerade erschienenem Buch Den Netten beißen die Hunde – Wie Sie sich Respekt verschaffen, Grenzen setzen und den verdienten Erfolg erlangen (Mosaik, 2021).

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