Career Catfishing: Wenn Lebensläufe lügen – und Unternehmen blenden

Mann verschränkt Finger hinter Rücken

Täuschung im Lebenslauf wird zur Strategie. Warum Menschen ihre Karriere erfinden, was Unternehmen daraus lernen sollten – und wie man echtes Potenzial erkennt, bevor es zu spät ist.

Der Lebenslauf makellos, das LinkedIn-Profil aktiv, das Auftreten im Vorstellungsgespräch souverän: Der neue Kollege wirkt wie ein Glücksgriff. Doch in der ersten Projektbesprechung bröckelte die Fassade. Fachfragen blieben unbeantwortet, die angeblichen Erfahrungen klangen auswendig gelernt. Was zunächst wie ein Missverständnis aussah, entpuppte sich als Täuschung: ein klassischer Fall von Career Catfishing.

Was im Online-Dating längst bekannt ist – das Vortäuschen einer falschen Identität – hat den Arbeitsmarkt erreicht. Doch hier endet das Spiel nicht nach dem ersten Treffen, sondern beginnt erst. Career Catfishing beschreibt die bewusste Manipulation beruflicher Identität, um im Bewerbungsprozess zu punkten. Es reicht vom Aufpolieren einzelner Stationen bis zum Erfinden von Qualifikationen, Zertifikaten oder Arbeitgebern. Was früher selten war, wird zunehmend zur Strategie im Kampf um begehrte Jobs.

Warum Menschen ihre Karriere inszenieren

Irrtümer und Mythen rund ums ArbeitsrechtDie Gründe sind vielfältig, die Mechanismen klar. Ein Arbeitsmarkt, geprägt von Fachkräftemangel, Konkurrenz und Unsicherheit, erhöht den Druck, sichtbar und erfolgreich zu wirken. Plattformen wie LinkedIn verstärken diesen Effekt: Wer nicht glänzt, fällt durch. Wer keine perfekten Kompetenzen zeigt, wird übersehen. Aus Bewerber:innen werden Marken, aus Persönlichkeiten Profile – und genau hier beginnt das Problem.

Viele fühlen sich gezwungen, ihr Profil aufzurüsten – inhaltlich, ästhetisch, rhetorisch. KI-gestützte Lebenslaufgeneratoren, ghostwriting-optimierte Anschreiben und professionelle Profil-Coaches liefern die Werkzeuge, um jede Vita in eine Erfolgsgeschichte zu verwandeln. Doch was wie harmlose Optimierung beginnt, wird zur Täuschung, wenn Substanz durch Schein ersetzt wird.

Wenn Täuschung zum System wird

Career Catfishing ist kein Einzelfall, sondern ein Symptom eines Systems, das Authentizität bestraft und Inszenierung belohnt. Die Methode ist simpel: Bewerber:innen erfinden Kompetenzen, Projekte oder Stationen, die nie existierten. Sie setzen darauf, dass Recruiter:innen unter Zeitdruck arbeiten, Soft Skills schwer überprüfbar sind und digitale Selbstdarstellung ohnehin inszeniert wirkt.

Die Zahl der „Fake Professionals“ bleibt schwer messbar. Viele Täuschungen fliegen nie auf – oder erst nach Monaten. Die Folgen sind gravierend: Fehlbesetzungen kosten Zeit, Geld und Vertrauen. Sie schaden der Teamdynamik und untergraben die Integrität von Auswahlprozessen. Wer einmal getäuscht wurde, prüft künftige Bewerbungen misstrauischer – und übersieht womöglich die, die wirklich passen.

Vertrauen braucht Kontrolle

Career Catfishing zwingt Unternehmen, eine unbequeme Wahrheit zu akzeptieren: Vertrauen allein reicht nicht. Der Glaube an den Lebenslauf muss durch systematische Validierung ergänzt werden. Doch blinder Kontrollwahn – jedes Zertifikat prüfen, jedes Gespräch zum Verhör machen – greift zu kurz. Was fehlt, ist eine Kultur, die Echtheit schätzt, Erwartungen mit der Realität abgleicht und Menschen ermutigt, sich ohne Maske zu zeigen.

Unternehmen müssen erkennen: Wer catfisht, handelt oft nicht aus Betrugsabsicht, sondern reagiert auf eine Kultur, die nur das perfekte Profil belohnt. Wer ausschließlich „Top Performer“ sucht, bekommt irgendwann Performer, die nur „top“ aussehen. Wer Linearität, Lückenlosigkeit und Leadership fordert, erhält Lebensläufe voller erfundener Geschichten.


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Die Lösung beginnt mit der Haltung

Was tun? Die Antwort liegt nicht in Software, sondern in Haltung. Unternehmen, die Career Catfishing verhindern wollen, müssen ihre Auswahlprozesse überdenken. Tiefe statt Tempo, Dialog statt Fassade, Resonanz statt Rhetorik: Bewerbungsgespräche sollten echte Gespräche werden – mit Raum für Zweifel, Reflexion und Umwege. Wer offen über Lernkurven und Fehlentscheidungen spricht, filtert nicht Schwäche, sondern Reife.

Zweitens braucht es Verifikation – nicht aus Misstrauen, sondern aus Professionalität. Arbeitsproben, Referenzen, praxisnahe Fallstudien oder strukturierte Kompetenzanalysen schaffen ein realistisches Bild. Nicht, um Bewerber:innen zu entlarven, sondern um sicherzustellen, dass Versprechen Substanz haben. Besonders in Schlüsselpositionen, bei Remote-Arbeit oder sensiblen Aufgaben sollte Validierung Standard sein.

Drittens braucht es Aufklärung. Viele wissen nicht, wo die Grenze zwischen legitimer Profilpflege und Täuschung verläuft. Karriereberatung, Hochschulen und Unternehmen müssen klar kommunizieren, was sie erwarten – und was nicht akzeptabel ist. Wer Integrität fordert, muss sie auch lehren.

Career Catfishing als Symptom – nicht als Ursache

Career Catfishing zeigt ein tiefer liegendes Problem: die Kluft zwischen Anspruch und Realität in einer performativen Arbeitswelt. Menschen fühlen sich gezwungen, jemand zu sein, der sie nicht sind– weil sie glauben, anders keine Chance zu haben. Unternehmen fühlen sich betrogen – ohne zu erkennen, dass sie Teil dieser Dynamik sind. Die Lösung liegt darin, Echtheit wieder als Stärke zu begreifen, nicht als Risiko. Karrieren dürfen brüchig, komplex und ungeradlinig sein – solange sie ehrlich sind.

Die Zukunft gehört Organisationen, die echtes Potenzial erkennen – nicht in der Inszenierung, sondern im Charakter, Denken und Handeln. Wer mutig auswählt, klar kommuniziert und systematisch prüft, schützt sich nicht nur vor Täuschung, sondern gewinnt Menschen, die wirklich passen. Career Catfishing ist kein Zufall, sondern eine Reaktion. Wer es versteht, kann verhindern, dass das nächste Bewerbungsgespräch wieder nur ein Spiel wird – bei dem am Ende niemand gewinnt.

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Sabine Hockling

Die Chefredakteurin Sabine Hockling hat WIR SIND DER WANDEL ins Leben gerufen. Die Wirtschaftsjournalistin und SPIEGEL-Bestsellerautorin beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit den Veränderungen unserer Arbeitswelt. Als Autorin, Herausgeberin und Ghostwriterin veröffentlicht sie regelmäßig Sachbücher – seit 2023 in dem von ihr gegründeten DIE RATGEBER VERLAG.