Das Märchen von der Arbeit am Abend

Frau sitzt auf Bett mit Laptop auf den Beinen

Beschäftigte wollen nicht spät am Abend arbeiten, um flexibler zu sein, so eine aktuelle Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI).

Oft heißt es, die Arbeitszeitenregelungen müssen geändert werden. Vor allem Arbeitgeber wünschen sich eine Abschaffung der gesetzlich festgeschriebenen Ruheregeln im Arbeitszeitgesetz. Allenfalls eine wöchentliche Höchstarbeitszeit soll als Rahmen gelten, fordern Arbeitgeberverbände schon lange. Das wäre modern und würde dem Wunsch der Beschäftigten nach mehr Zeitsouveränität und Flexibilität entgegenkommen. Am späten Nachmittag aufbrechen und die Kinder abholen, um dann nach 22 Uhr noch ein bis zwei Stunden im Home-Office nachholen – das ist das neue Normal.

Wir sind der Wandel-NewsletterGewerkschaften und eher linke Parteien halten dagegen, und auch Arbeitsschützerinnen und Arbeitsschützer wenden ein: Die gesetzlichen Ruhezeiten von in der Regel elf Stunden Pause zwischen den Arbeitseinsätzen müssen sein, um die Menschen vor Überlastung zu schützen. Doch was sagen die Beschäftigten? Laut einer neuen Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) wollen die meisten gar nicht nach Feierabend am Abend noch arbeiten oder Stunden nachholen. Für sie ist das überhaupt keine Option, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erhöhen. 97 Prozent der für diese Untersuchung Befragten gaben gar an, dass sie spätestens um 18 Uhr Feierabend machen möchten. Denn die dann noch zur Verfügung stehende Zeit reicht oft gerade einmal für das Nötigste: den Weg nach Hause, einkaufen, Essen machen, Sorgearbeit verrichten und eventuell etwas Privatleben und Sozialkontakte pflegen. Im Übrigen gilt dies auch für Menschen, die keine Eltern sind. Auch sie wollen nicht regelmäßig am späten Abend noch verfügbar sein müssen für den Job.

Ständige Erreichbarkeit erzeugt ungesunden Stress

“In der politischen Arena werden immer wieder Forderungen nach einer Aufweichung der gesetzlichen Arbeitszeitregeln laut”, so das WSI. Das Argument, so seien Beruf und Privatleben leichter unter einen Hut zu bringen, hat “mit realen Arbeitszeitwünschen aber kaum etwas zu tun”. Durchgeführt hat die Studie die Soziologin Yvonne Lott, die dafür Daten von über 2.300 sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten analysierte, die im November 2022 an der Befragung teilgenommen haben. Laut Lott spiegeln die Ergebnisse auch das wieder, was andere Analysen schon gezeigt haben: Ständige Erreichbarkeit, die Arbeit am Abend sowie permanente Ansprechbarkeit führen nachweislich zu erhöhtem Stress und beeinträchtigen das Sozialleben stark. Mit gesundheitlichen Folgen: Menschen sind schneller erschöpft, leiden unter Schlafproblemen und sonstigen gesundheitlichen und psychischen Leiden.

Die Linken-Bundestagsabgeordnete Susanne Ferschl griff die Studie auf und kritisierte politische Forderungen nach flexiblen Arbeitszeiten. Diese gründeten auf “Märchen aus den Chefetagen”, erklärte sie. “Es hilft Eltern nicht, Zeitgrenzen weiter aufzuheben.” Betroffene seien dann eher dazu “gezwungen, ihre Arbeitszeit zu reduzieren oder den Job zu wechseln”.

Tina Groll

Tina Groll arbeitet hauptberuflich als Redakteurin bei ZEIT ONLINE im Ressort Politik & Wirtschaft. 2008 zeichnete sie das Medium Magazin als eine der “Top 30 Journalisten unter 30 Jahren“ aus. Sie ist Mitglied im Deutschen Presserat sowie als Vorsitzende der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union tätig. Als Autorin von WIR SIND DER WANDEL beschäftigt sie sich mit der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Gesundheitspolitik.