Der Feierabend fällt dann einfach weg

Gesicht überhäuft mit Post-its

FDP und Arbeitgeber wollen das Arbeitszeitgesetz lockern. Gewerkschaften warnen davor. Denn das würde Tausende ins Burnout führen, so die Befürchtung.

Von wegen nine to five: 9 bis 17:30 Uhr – so sieht der rechtlich korrekte Regelarbeitstag bei einer 40-Stunden-Woche an fünf Werktagen aus, denn die halbe Stunde Pause ist vorgeschrieben und das deutsche Arbeitszeitgesetz ist streng. Dabei muss die Pause allerspätestens  nach sechs Stunden genommen werden; man kann jedoch auch zweimal eine Viertelstunde pausieren. Außerdem müssen nach dem Gesetz zwischen zwei Arbeitstagen mindestens elf Stunden Ruhezeiten liegen – und nur im Ausnahmefall darf man länger als acht Stunden arbeiten. Ferner muss der Arbeitgeber im Zweifel kontrollieren, ob die Mitarbeitenden die Pause auch wirklich einhalten. Das ergibt sich aus seiner Fürsorgepflicht. Alles klar?

Spätestens seit der Corona-Pandemie, als Millionen Beschäftigte aus dem Home-Office tätig waren, ist klar, dass diese Regelung allenfalls in der Theorie funktioniert. In den Lockdowns joglierten Millionen berufstätige Eltern mit den Arbeitszeiten und der Kinderbetreuung. Bei vielen funktionierte es nur, weil sie zeitversetzt zwischen den frühen Morgenstunden und der späten Nacht arbeiteten, um 40-Stunden-Woche und Homeschooling hinzubekommen. Am Ende waren alle erschöpft und die wenigstens Arbeitgeber haben wohl nachgefragt, ob die Mitarbeitenden auch die Pausenzeiten eingehalten haben.

Die tägliche Höchstarbeitszeit abschaffen

Ob die Vorschriften aus dem Arbeitszeitgesetz noch zeitgemäß sind, darüber streiten sich Arbeitgeber und Gewerkschaften, mal wieder. Jetzt, wo absehbar ist, dass Millionen Beschäftigte in der hybride Post-Corona-Arbeitswelt zumindest zeitweilig regelmäßig im Home-Office arbeiten werden, soll ein neuer rechtlicher Rahmen her. Das fordert unter anderem die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA). Die Arbeitgeber wollen, dass statt der täglichen Höchstarbeitszeit nur noch die wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden gilt und auch die Ruheregeln aufgeweicht werden: Laut Arbeitgebern könnten es auch nur neun Stunden sein, die man auch in zwei Blöcke teilen könnte. Davon könnten dann etwa berufstätige Eltern profitieren, die nachmittags Kinder betreuen müssen und abends noch weiter arbeiten wollen, so die Arbeitgeber.

Sie haben die FDP als Partner an der Seite. Die Liberalen drängten im Wahlkampf ebenfalls auf eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten, heruntergebrochen auf zwei wesentliche Punkte: Beschäftigte sollen selbst entscheiden können, wie viel (mehr) sie am Tag arbeiten, die tägliche Höchstarbeitszeit soll daher abgeschafft werden soll. Und auch die Pausen sollen flexibler möglich sein.

Die strengen Regeln aus dem Arbeitszeitgesetz sind Schutzvorschriften

Was gut klingt, hat jedoch gleich mehrere Haken: Zum einen geht es der FDP nicht so sehr um das Wohl der Beschäftigten. Die Liberalen argumentieren vor allem mit dem wachsenden internationalen wirtschaftlichen Wettbewerb und den individualisierten Kundenwünschen. Auch die BDA betont die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf nur vordergründig. Schon heute können berufstätige Eltern abends noch etwas arbeiten und E-Mails beantworten. Nur Arbeitgebern ist es nach den heutigen rechtlichen Regelungen verboten, die Arbeit am späten Abend oder in der Nacht regelmäßig anzuordnen. Die angeblich strengen Regeln aus dem Arbeitszeitgesetz sind nämlich in Wahrheit Schutzvorschriften.

Und dann ist weder von Arbeitgebern noch Liberalen Flexibilierung nur in eine Richtung angedacht: Der Anspruch auf die fixen Ruhezeiten soll aufgeweicht werden – es geht aber nicht um mehr Pausen oder weniger Arbeit. Angedacht ist auch nicht, dass Arbeitgeber die Arbeitszeit erfassen sollen – das aber ist ein ganz zentraler Punkt, sollen Beschäftigte vor Überlastung geschützt werden.

Die fehlende Arbeitszeiterfassung ist schon lange ein Problem. In immer mehr Unternehmen wird Vertrauensarbeitszeit praktiziert, mindestens jeder dritte Betrieb soll laut Erhebungen dies schon praktizieren. Und auch ergebnisorientierte Führung greift immer stärker um sich. Bei einer indirekten Leistungssteuerung sind die Beschäftigten selbst dafür verantwortlich, wie sie ein vorgegebenes Ziel erreichen. Viele Studien haben aber mittlerweile gezeigt: Das führt oft zu Überstunden, die weder festgehalten noch ausgeglichen werden.

Die Aufweichung der Arbeitszeitvorschriften ist unter den Ampel-Parteien beschlossen

Streng genommen ist das gar nicht zulässig: Im Jahr 2019 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) festgestellt, dass auch bei Vertrauensarbeitszeit der Arbeitgeber die Arbeitszeit erfassen muss. In Deutschland fehlt bisher aber die gesetzliche Umsetzung dieses Urteils. Und nun das: Die Aufweichung der Arbeitszeitvorschriften ist unter den Ampel-Parteien bereits beschlossen – eine Regelung zur Arbeitszeitkontrolle bei Vertrauensarbeitszeit aber nicht. Das geht aus dem Sondierungspapier von FDP, SPD und Grünen hervor, in dem sich anscheinend die Liberalen beim Thema Arbeitszeit durchgesetzt haben.

Das ist überraschend, denn vor allem die SPD – hier besonders die gewerkschaftlich gesinnten Genossinnen und Genossen – hatte dies abgelehnt. Im Sondierungspapier findet sich daher ein Zugeständnis an die Gewerkschaften. Das Arbeitszeitgesetz wird nur befristet gelockert und auch nur, wenn es tarifliche Regeln dafür gibt. Zudem soll das Ganze evaluiert werden. Klingt fair, wäre da nicht noch ein weiterer Satz, der Gewerkschaften stutzig macht. Denn die Ampel-Parteien wollen auch sogenannte “Experimentierräume” schaffen, damit die tägliche Arbeitszeit erhöht werden kann. Dafür braucht es dann laut Sondierungspapier auch keine Gewerkschaften, es reichen auch Betriebsvereinbarungen, die von Betriebsräten mit den jeweiligen Unternehmen abgeschlossen werden.

Im Home-Office und bei Vertrauensarbeitszeit, die nicht erfasst wird, fallen fast doppelt so viele Überstunden an

Und noch etwas irritiert. Im Papier übernehmen die Ampel-Parteien die gängige Argumentation, dass diese Lockerung nötig sei, “um auf die Veränderungen in der Arbeitswelt zu reagieren und die Wünsche von Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmern und Unternehmen nach einer flexibleren Arbeitszeitgestaltung aufzugreifen”, heißt es im Sondierungspapier. Doch ist das Interesse von Arbeitgebern und Beschäftigten wirklich deckungsgleich?

Eine neue Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung lässt daran erhebliche Zweifel aufkommen. Die beiden Arbeitsforscherinnen Elke Ahlers und Yvonne Lott haben die Studie verfasst und warnen vor einer Lockerung der bisherigen Regeln des Arbeitszeitgesetzes. “Wenn Schutzvorschriften zur Begrenzung der täglichen Arbeitszeit geschwächt werden, dürfte das für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zusätzliche Belastungen bringen”, heißt es in der Studie, für die sie 4.500 Beschäftigte im Juli befragt hatten und die bestehende Forschung ausgewertet haben. Dabei haben sie auch das Arbeiten im Home-Office besonders in den Blick genommen. Hier zeigt sich, dass im Home-Office und bei Vertrauensarbeitszeit, die nicht erfasst wird, fast doppelt so viele Überstunden anfallen wie bei Beschäftigten, die in Präsenz und mit Arbeitszeiterfassung arbeiten.

Jeder Zweite leidet schon heute unter Stress

Die Forscherinnen verweisen darauf, dass bereits heute die Hälfte der Erwerbstätigen in Deutschland unter Stress leide und Probleme dabei habe, von der Arbeit mental abzuschalten. Besonders betroffen seien Menschen mit Projektarbeit oder Deadlines sowie Personen, die indirekter Leistungssteuerung ausgesetzt sind. Eine wichtige Rolle spiele dabei, wie viel Personal für welche Zielsetzung vorhanden sei. Meist machten Beschäftigte Überstunden am Abend und am Wochenende, weil “sie sich für den Erfolg von Projekten und die Einhaltung von Fristen verantwortlich fühlen”, so die Wissenschaftlerinnen. Es handele sich um interessierte Selbstgefährdung, mit der die Gefahr von Stresserkrankungen wie Burnout stiegen.

Und daher kann auch nicht die Rede davon sein, dass Arbeitgeber und Beschäftigte aus den gleichen Gründen mehr Flexibilität bei den Arbeitszeiten haben wollen. Wenn Mitarbeitende diesen Wunsch äußern, dann geht es ihnen vor allem um mehr Zeitsouränität, um weniger Stress zu haben. Bei den Arbeitgebern jedoch geht es um das Erreichen ökonomischer Ziele mit einer möglichst wirtschaftlichen Personaldecke.

Das Arbeitszeitgesetz braucht keine Experimente

Eine Aufweichung der Ruheregeln käme daher für viele abhängig Beschäftigten der Einführung einer Art Rufbereitschaft gleich – schließlich könnte man dann auch nach acht Stunden Arbeit am späten Abend jederzeit für den Job noch angesprochen werden. Vom Job abzuschalten und auch einen Ausgleich zu fordern, könnte für viele dann noch schwieriger werden – erst Recht, wenn die Arbeitszeit nicht erfasst wird und die tatsächlich geleistete Arbeit gar nicht so lange dauert. Aber wie kompensiert man, von 16 bis 23 Uhr ständig verfügbar sein zu müssen, um dann von 23 Uhr bis 23.15 Uhr eine E-Mail zu beantworten? Die Arbeitsforscherinnen warnen auch davor, dass insbesondere Mütter darunter leiden könnten, da sie häufig immer noch den Großteil der Kinderbetreuung übernehmen. Das Fazit der Forscherinnen ist daher klar: Es braucht keine weitere Flexibilisierung, sondern vielmehr ein starkes Arbeitszeit- und Arbeitsschutzgesetz sowie eine im Betrieb verbindlich geregelten Arbeitszeiterfassung.

Eine Forderung, die auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) erhebt. DGB-Chef Reiner Hoffmann sagt: “Das Letzte, was wir brauchen, sind noch längere Arbeitszeiten oder Einschränkungen der Ruhezeiten.” Die neue Koalition müsse stattdessen das EuGH-Urteil zur Verpflichtung der Arbeitgeber zur Arbeitszeiterfassung umsetzen sowie weitere Bausteine auf den Weg bringen, die Beschäftigten echte Arbeitszeitsouveränität ermöglichen. Etwa durch den Ausbau der Brückenteilzeit, also einer befristeten Teilzeitarbeit mit Rückkehranspruch in Vollzeit. Oder auch das Recht, die Lage und den Ort der Arbeit, falls möglich, selbst bestimmen zu können. Alles Themen, mit denen die SPD in den Wahlkampf gezogen ist.

Tina Groll

Tina Groll arbeitet hauptberuflich als Redakteurin bei ZEIT ONLINE im Ressort Politik & Wirtschaft. 2008 zeichnete sie das Medium Magazin als eine der “Top 30 Journalisten unter 30 Jahren“ aus. Sie ist Mitglied im Deutschen Presserat sowie als Vorsitzende der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union tätig. Als Autorin von WIR SIND DER WANDEL beschäftigt sie sich mit der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Gesundheitspolitik.