Deutschland – Ein Land im Lohnnebel

Gruppe von Personen

Lange blieb die wahre Entwicklung der Löhne verborgen. Nun enthüllt der neue IAB-Lohnmonitor, wer aufschließt, wer zurückfällt – und wie Arbeit, Wert und Gerechtigkeit in Deutschland im Wandel sind.

Jahrelang tappte Deutschland im Dunkeln, wenn es um die Lohnentwicklung ging. Statistiken kamen zu spät, Spitzengehälter fehlten in den Daten, und Befragungen blieben oberflächlich. Politik und Unternehmen arbeiteten mit veralteten Zahlen – in einem Arbeitsmarkt, der sich schneller wandelt als jede Statistik.

Inflation, Fachkräftemangel, Transformation – alles griff ineinander, doch niemand wusste genau: Wie entwickeln sich die Löhne? Wer profitiert, wer verliert?

IAB-Lohnmonitor bringt Klarheit

Mit dem IAB-Lohnmonitor kann Deutschland erstmals Löhne präzise, häufig und differenziert analysieren. Grundlage ist das Online-Panel OPAL – Arbeiten und Leben in Deutschland, eine vierteljährliche Befragung von 7.500 Erwerbstätigen.

Die Forscher Hermann Gartner, Bajai Resch und Enzo Weber verbinden Tempo mit wissenschaftlicher Tiefe. Ihre Daten erfassen Arbeitszeiten, Haushaltskontexte und Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze – ein bisher fehlendes Gesamtbild.

Die Ergebnisse zeigen den Wandel: Der durchschnittliche Stundenlohn stieg von 23,54 Euro Ende 2023 auf 25,61 Euro Mitte 2025 – ein Plus von gut 9 Prozent. Doch die Details sind entscheidender:

– Untere Einkommen holen auf
Beschäftigte ohne Berufsabschluss steigerten ihre Löhne um 13 Prozent, Akademiker:innen nur um 5,8 Prozent.

– Der Gender Pay Gap schrumpft
Frauen verdienten 2025 im Schnitt 15,3 Prozent weniger als Männer – der geringste Abstand seit Beginn der Erhebungen.

-Neue Jobs zahlen besser
In frischen Arbeitsverhältnissen stiegen die Löhne zeitweise um über 20 Prozent – ein Zeichen für die Dynamik des Arbeitsmarkts.

Diese Zahlen sind mehr als Statistik. Sie erzählen die Geschichte eines Marktes, der sich neu ausrichtet: weg von der Stagnation der 2010er Jahre, hin zu mehr Bewegung, Differenzierung – und in Teilen zu mehr Gerechtigkeit.

Ein neues Verständnis von Arbeit und Wert

Irrtümer und Mythen rund ums ArbeitsrechtDer Monitor zeigt, wie stark Bildung, Familienstruktur und Beschäftigungsform die Einkommen prägen. Vollzeitkräfte verdienen im Schnitt 27,08 Euro, Teilzeitkräfte 21,94 Euro. Männer mit Kindern liegen 10 Prozent über kinderlosen Männern – bei Frauen beträgt der Unterschied kaum 1 Prozent. Das zeigt: Rollenbilder verändern sich, doch strukturelle Ungleichheiten bleiben.

Gleichzeitig verschiebt sich die Balance von Angebot und Nachfrage. Der Fachkräftemangel treibt Löhne in Engpassberufen, während die Konjunkturschwäche die Industrie bremst. Die oberen Lohnsegmente legen wieder leicht zu, nachdem 2024 die unteren überdurchschnittlich gewachsen waren. Der Gini-Koeffizient, der die Lohnungleichheit misst, sank dennoch von 0,223 auf 0,213.

Ein zentrales Muster: Junge Beschäftigte holen auf. Unter 25-Jährige steigerten ihre Löhne binnen eines Jahres um 13,8 Prozent, während die Gruppe der über 54 nur um 0,9 Prozent zulegte. Bildung, Mobilität und Branchenwechsel zahlen sich aus – auch, weil Unternehmen stärker um Talente werben.

Mehr Transparenz – mehr Steuerungskraft

Mit OPAL schließt das IAB eine Lücke. Anders als die Verdiensterhebung von Destatis oder die Daten der Bundesagentur für Arbeit liefert der Lohnmonitor aktuelle und ungeschönte Informationen – ein strategisches Werkzeug für Politik, Wirtschaft und Tarifpartner.

So lassen sich Lohnbewegungen früh erkennen, Reformen gezielter steuern und Tarifverhandlungen fundierter führen. Besonders in Zeiten hoher Inflation und digitaler Transformation ist das ein entscheidender Fortschritt. Was folgt daraus?

Die Daten zeigen ein Land, das sich in seiner ökonomischen Mitte neu erfindet:
– Geringqualifizierte gewinnen
Mindestlohnerhöhungen, Arbeitskräftemangel und Nachholeffekte treiben ihre Löhne.

– Frauen holen auf
Nicht nur politische Maßnahmen, auch veränderte Strukturen in vielen Branchen tragen dazu bei.

– Unternehmen reagieren flexibler
Neueinstellungen machen Marktkräfte sichtbar und treiben die Dynamik.

Doch der Bericht warnt: Die jüngsten Lohnsteigerungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Produktivität, Teilhabe und Qualifizierung entscheidend bleiben. Wer nur auf kurzfristige Effekte setzt, riskiert die nächste Schieflage.


Mehr zum Thema:


Von der Analyse zur Strategie

Der Lohnmonitor soll künftig mehrmals im Jahr erscheinen – ein Frühwarnsystem für Trends und Risiken. Perspektivisch sollen die OPAL-Daten mit der Beschäftigtenhistorik verknüpft werden, um Löhne nach Branchen, Betriebsgrößen oder Berufen differenziert zu analysieren. Damit entsteht ein einzigartiges Instrument für eine evidenzbasierte Arbeitsmarktpolitik.

Deutschland steht an einem Wendepunkt: Löhne steigen, Unterschiede schrumpfen, Transparenz wächst. Doch der Wandel bleibt fragil. Die neue Datentiefe des IAB zeigt nicht nur, was sich verändert – sondern warum. Sie zwingt Wirtschaft und Politik, neu über Arbeit, Wert und Gleichgewicht nachzudenken. Die Zahlen sind kein Selbstzweck. Sie erzählen die Geschichte eines Arbeitsmarkts, der – endlich – beginnt, seine Zukunft zu vermessen.

Wir sind der Wandel-Newsletter

Sabine Hockling

Die Chefredakteurin Sabine Hockling hat WIR SIND DER WANDEL ins Leben gerufen. Die Wirtschaftsjournalistin und SPIEGEL-Bestsellerautorin beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit den Veränderungen unserer Arbeitswelt. Als Autorin, Herausgeberin und Ghostwriterin veröffentlicht sie regelmäßig Sachbücher – seit 2023 in dem von ihr gegründeten DIE RATGEBER VERLAG.