Ein Urteil, das Gehälter verändern kann

Mann und Frau sitzen mit Arbeitsunterlagen im Cafe

Frauen können ungleiche Bezahlung leichter nachweisen. Der Vergleich mit einzelnen männlichen Kollegen reicht aus, und Unternehmen müssen Gehaltsunterschiede nachvollziehbar begünden. Eine Einordnung von Tina Groll.

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat Frauen den Weg zu gleicher Bezahlung geebnet. Wer ungleiche Entlohnung anprangert, muss sich nicht mehr an Medianlöhnen oder Gruppenmittelwerten orientieren, sondern darf einzelne besser bezahlte männliche Kollegen heranziehen. Der sogenannte Paarvergleich genügt, um eine geschlechtsbedingte Benachteiligung zu vermuten. Dann liegt es am Arbeitgeber, die Unterschiede mit sachlichen Gründen wie Verantwortung, Qualifikation oder Erfahrung zu rechtfertigen. Das Urteil betrifft den Fall einer langjährigen Abteilungsleiterin bei Daimler (Az. 8 AZR 300/24).

Die Klägerin hatte nach ihrer Elternzeit über ein konzerninternes Lohntransparenz‑Dashboard festgestellt, dass sie weniger verdiente als einzige männliche Kollegen, und klagte auf Nachzahlung. Das Landesarbeitsgericht (LAG) Baden‑Württemberg hatte zunächst nur teilweise und auf Basis von Medianwerten entschieden. Die Erfurter Richter:innen hoben dieses Urteil in zentralen Punkten auf und verwiesen den Fall zurück. Entscheidend sei, dass „der Arbeitgeber einem anderen Kollegen, der gleiche oder gleichwertige Arbeit verrichtet, ein höheres Entgelt zahlt“, nicht, wie der Median einer Vergleichsgruppe ausfällt. Eine „überwiegende Wahrscheinlichkeit“ für Diskriminierung zu verlangen, sei unionsrechtlich unzulässig. Das Gericht betonte zudem, die Klägerin habe „hinreichende Tatsachen vorgetragen, die eine geschlechtsbedingte Entgeltbenachteiligung vermuten lassen“. Nun muss das LAG prüfen, ob der Arbeitgeber die Vermutung durch sachliche Gründe entkräften kann. „Gründe können etwa die Ausbildung oder die Berufserfahrung sein, auf Abteilungsleiterebene gegebenenfalls auch die Größe der Abteilung oder deren Erfolg“, so das Gericht.

Der bereinigte Gender Pay Gap stagniert

Irrtümer und Mythen rund ums ArbeitsrechtDie Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) begrüßte das Urteil als Präzisierung zugunsten von Equal Pay. „Das Gericht lehnte die Auffassung der Vorinstanzen ab, dass sich der Anspruch auf gleichen Lohn auf die Differenz zum Median beschränkt“, erklärte die GFF. Diese Berechnungsweise sei „mit der heutigen Entscheidung vom Tisch“. Damit habe man „eine wichtige Klarstellung für die Durchsetzung von Equal Pay erreicht“. Der Grundsatz bleibt: „Männer und Frauen haben bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit Anspruch auf gleiches Entgelt“.

Das Entgelttransparenzgesetz, das Beschäftigten in Unternehmen mit mehr als 200 Mitarbeitenden einen individuellen Auskunftsanspruch über das Entgelt vergleichbarer Kollegen gewährt, bildet den rechtlichen Hintergrund. Das Urteil zeigt, wie wirksam solche Auskünfte im Prozess sein können. Arbeitsrechtler und Gewerkschaften fordern, die EU‑Entgelttransparenzrichtlinie vollständig und fristgerecht umzusetzen. Die Frist endet am 7. Juni 2026.

Die Lücken sind noch größer

Das BAG-Urteil fällt in eine Zeit, in der die Statistik Fortschritte, aber auch Beharrungskräfte zeigt. Der unbereinigte Gender Pay Gap sank 2024 auf 16 Prozent: Frauen verdienten durchschnittlich 22,24 Euro pro Stunde, Männer 26,34 Euro. Der Rückgang um zwei Prozentpunkte gegenüber 2023 ist der stärkste seit Beginn der Berechnungen 2006. Auffällig bleibt die regionale Spreizung: In Ostdeutschland beträgt die Lücke 5 Prozent, in Westdeutschland 17 Prozent. Der bereinigte Gender Pay Gap – die Lücke bei vergleichbarer Tätigkeit, Qualifikation und Erwerbsbiografie – stagniert jedoch bei 6 Prozent. Studien zeigen, dass hinter dem Durchschnitt erhebliche Unterschiede nach Alter, Bildung und Region stecken. Strukturelle Faktoren wie Teilzeit, Branchen- und Positionssegregation oder Erwerbsunterbrechungen erklären einen großen Teil der Verdienstunterschiede.

Wie tief solche Unterschiede ins Leben eingreifen, zeigt der Blick auf die Alterseinkünfte. Frauen ab 65 Jahren erhalten 2024 im Schnitt 36,9 Prozent weniger Bruttoalerseinkünfte als Männer. Berücksichtigt man Hinterbliebenenrenten, sinkt die Lücke auf 25,8 Prozent. Der Gender Pension Gap spiegelt, was zuvor am Arbeitsmarkt geschah: geringere Erwerbsumfänge, längere Unterbrechungen, niedrigere Löhne – alles Faktoren, die sich in Rentenpunkten niederschlagen und über Jahrzehnte wirken. Equal Pay ist daher kein Randthema, sondern ein zentraler Hebel, um Altersarmut von Frauen zu senken und ihre wirtschaftliche Eigenständigkeit zu sichern.


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Auch beim Vermögen zeigt sich Ungleichheit, wenn auch komplexer. Der Gender Wealth Gap liegt in Westdeutschland bei rund 26 Prozent, in Ostdeutschland bei rund 31 Prozent. Einkommen und Erwerbsbiografien prägen ihn ebenso wie Finanzwissen, Anlageverhalten und ungleiche Schenkungen oder Erbschaften. Heterosexuelle Paare teilen Vermögen oft, was die Messung verfälschen kann. Deutlich sichtbar bleibt die Unterseite der Verteilung: 54 Prozent der vermögensarmen Bevölkerungshälfte sind Frauen. Wer seltener Vollzeit arbeitet, häufiger unterbricht und weniger verdient, baut seltener Vermögen auf – ein Mechanismus, der ohne Lohngleichheit kaum zu durchbrechen ist.

Das bisschen Haushalt?

Ein Kernproblem liegt in der unbezahlten Sorgearbeit. Frauen leisten 2022 täglich 44,3 Prozent mehr unbezahlte Care‑Arbeit als Männer – rund 79 Minuten zusätzlich für Hausarbeit, Kinderbetreuung und Pflege von Angehörigen. Diese Zeit fehlt für Erwerbsarbeit, begrenzt Karrieren und schlägt sich in Einkommen, Rente und Vermögen nieder. Gleichstellungsexperten warnen seit Jahren: Ohne eine gerechtere Verteilung der Care‑Arbeit lassen sich Pay, Pension und Wealth Gaps nicht schließen.

Das BAG-Urteil wirkt hier indirekt: Es senkt die Hürden der Beweisführung, stärkt die individuelle Rechtsdurchsetzung und setzt Unternehmen unter Druck, Vergütungssysteme transparenter und diskriminierungsfrei zu gestalten. Für Arbeitgeber ist die Botschaft klar: Wer Unterschiede zahlt, muss sie erklären. In einer Zeit wachsender Transparenzrechte und zusätzliche EU-Auskunfts‑ und Berichtspflichten steigt das Risiko intransparenter Systeme. Die Zahl potenzieller Klagen dürfte zunehmen. Für Beschäftigte ist die gerichtliche Hürde gesunken: Der Vergleich mit einzelnen Kollegen, auch Spitzenverdienern, genügt, um den Verdacht zu begründen. Für die Gleichstellungspolitik eröffnet sich ein praktikabler Weg, abstrakte Prinzipien in konkrete Gehaltsnachzahlungen zu übersetzen. Das Urteil setzt ein starkes Signal: Gleiches Geld für gleiche Arbeit – nicht nur im Gesetz, sondern auf der Gehaltsabrechnung.


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Tina Groll

Tina Groll, SPIEGEL-Bestsellerautorin und Redakteurin bei ZEIT ONLINE im Ressort Politik & Wirtschaft, konzentriert sich als Autorin von WIR SIND DER WANDEL auf Arbeitsmarkt-, Sozial- und Gesundheitspolitik. 2008 zeichnete sie das Medium Magazin als eine der “Top 30 Journalisten unter 30 Jahren” aus. Ferner ist sie Mitglied im Deutschen Presserat.