Im Jahr 2022 hat fast an jedem Arbeitstag ein Streik stattgefunden. Und auch wenn die Deutschen noch weit von einer Streiknation entfernt sind, denn im internationalen Vergleich liegt die Bundesrepublik eher im unteren Mittelfeld, nimmt die Macht der Gewerkschaften zu.
Eine neue Studie zur Arbeitskampf-Bilanz 2022 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) zeigt: 2022 wurden in Deutschland insgesamt 225 Arbeitskämpfe geführt. Rund 930.000 Beschäftigte nahmen daran teil. Rein rechnerisch fielen damit 674.000 Arbeitstage aus. Mehr noch: Die gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten haben 2022 sogar öfter die Arbeit niedergelegt als im Vorjahr. 2021 gab es 221 Arbeitskämpfe mit 909.000 Streikenden und 596.000 Ausfalltagen.
“Streiks sind in Deutschland nicht nur ein demokratisches Grundrecht der Beschäftigten, sondern auch ein normales Instrument der Konfliktregulierung, ohne das die Tarifautonomie nicht funktionieren würde”, so Thorsten Schulten, Leiter des WSI-Tarifarchivs und Mitverfasser der Studie. Von einer Streiknation sind die Deutschen aber noch weit enfernt, denn im internationalen Vergleich liegt die Bundesrepublik beim Arbeitskampfvolumen eher im unteren Mittelfeld, so die Forschenden.
Frauen streiken seltener
Ein Streik fällt zudem nicht einfach so vom Himmel, sondern ist immer nur das letzte Mittel bei einer tariflichen Auseinandersetzung in einem Betrieb. Die Zahl der Streiks hängt daher immer mit der Zahl der Tarifkonflikte in Unternehmen zusammen. Und diese Zahl steigt auch dann, wenn etwa Branchen- und Flächentarife weniger werden, weil immer mehr Arbeitgeber die Tarifbindung oder sogar einen Arbeitgeberverband verlassen. Dann erkämpfen sich die Mitarbeitenden, oft zeitversetzt, später einen Haustarifvertrag.
Im Jahr 2022 fanden Streikaktionen vor allem im Rahmen der Tarifrunden der Metall- und Elektroindustrie statt. Größere Flächenauseinandersetzungen gab es außerdem bei den Unikliniken in Nordrhein-Westfalen, dem Sozial- und Erziehungsdienst und bei den Seehäfen. Sowie in einzelnen Unternehmen, in denen Haustarifverträge erstritten wurden. Oft geht es dabei darum, den Anschluss an bestehende Branchentarifverträge zu erhalten oder überhaupt eine tarifliche Bindung zu bekommen. Laut der Studie haben mittlerweile viele Beschäftigte schon Erfahrungen mit Arbeitskämpfen gemacht – gut jede und jeder sechste Mitarbeitende (17 Prozent) hat schon einmal an einem Streik teilgenommen.
Männer arbeiten in Branchen mit starken Branchentarifen
Der Unterschied zwischen den Geschlechtern ist dabei gravierend. Während 22 Prozent der Männer angeben, bereits an Streiks teilgenommen zu haben, sind es bei den Frauen 13 Prozent. Die Erklärung dafür ist simpel: Männer arbeiten immer noch in Branchen wie etwa der Industrie mit der Metall- und Elektroindustrie oder dem Verkehrssektor, wo starke Branchentarife gelten. Frauen hingegen sind bei kleineren Unternehmen angestellt und in solchen Branchen tätig, in denen entweder eine starke Tarifbindung fehlt oder es nur selten Tarifverträge gibt. Im Sozial- und Gesundheitswesen, wo viele Frauen arbeiten, nahmen jedoch Tarifbewegungen in den letzten Jahren deutlich zu.
Wenig überraschend ist auch, dass die Streikerfahrung unter Gewerkschaftsmitgliedern mit 49 Prozent deutlich größer ist als bei Nicht-Mitgliedern. Bei jenen haben nur elf Prozent bisher Erfahrungen mit Arbeitskämpfen gemacht. Und zwischen Ost- und Westdeutschland gibt es mit 16 bzw. 18 Prozent der streikerfahrenen Beschäftigten kaum mehr Unterschiede.