Kultiviert streiten

Mann zielt mit Banane als Waffe

Wie bringt man Menschen dazu, an einem Strang zu ziehen und ihre Kräfte zu bündeln, um eine gemeinsame Ausrichtung zu finden? Der Managementberater Heinz Becker weiß, wie Konfliktsituationen konstruktiv zu meistern sind.

Ein Gastbeitrag von Heinz Becker

Der Lack ist ab. Eben war VW noch die heile Welt technischer Spitzenleistungen, ökologischer Vorbildlichkeit, hehrer ethischer Ansprüche und zugleich der Ambition, die Nummer eins in der Welt zu sein. Und plötzlich entpuppt sich Lug und Trug. Wie ist es möglich, dass Manager solch gravierende Fehlentscheidungen treffen wie bei VW geschehen, obgleich sie es hätten besser wissen können, ja wissen müssen? Warum und unter welchen Umständen werden wichtige Fakten ignoriert? Wieso treffen hochkompetente Menschen derart inkompetente Entscheidungen?

Das wohl größte Managerversagen in der Geschichte der Bundesrepublik offenbart: Martin Winterkorn führte den Konzern vollkommen autokratisch. Er kümmerte sich persönlich um jedes Detail verbreitete über die gesamte Hierarchie ein Klima der Angst. Einschüchterung erstickte Widerspruch bis hinunter zur Werkbank. Ein modernes auto zu bauen, erfordert aber die mitsteuernde Initiative der Experten aller Disziplinen. Da stößt das System Befehl und Gehorsam an seine Grenzen.

Dieses Faktum mag den Betriebsratsvorsitzenden Bernd Osterloh bewogen haben, als er einen Kulturwandel forderte: „Die Mitarbeiter müssen sich mit ihren Ideen und Bedenken direkt an ihre Vorgesetzten wenden können.“ Dann liegen die Probleme auf dem Tisch und es kann offen um Lösung gestritten werden. Am besten konstruktiv.

Wie wird man sich einig?

Kultiviertes Streiten ist die einzige vernünftige Alternative zum System Befehl und Gehorsam. Erst diskursive Entscheidungsprozesse – ohne eine Atmosphäre der Angst – ermöglichen, den Entscheidungsgegenstand aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und damit Fehlentscheidungen entgegenzutreten.

Streitkultur initiieren und in ihrem Verlauf führen – das ist leichter gesagt als getan. In der Praxis empfinden alle Beteiligten das ganze Gruppenprozedere als lähmend. Da ist die Rede von Frustrationen, Emotionen und Blockaden, von Einzelkämpfern, die sich profilieren wollen, von Konkurrenzkämpfen, die der Sache schaden, von faulen Kompromissen, von Zeitvergeudung, halbherzigen Zustimmungen, von schleppenden Prozessen, die nicht selten einfach versanden. Wie werden wir uns einig?

  • Wohin fahren wir in den Ferien?
  • Mit welcher Strategie spielen wir gegen Bayern München?
  • Welches Programm wollen wir im Wahlkampf vertreten?
  • Wie schaffen wir mehr Arbeitsplätze?
  • Durch welche Maßnahmen behaupten wir uns am Markt?
  • Wie können wir unsere Zusammenarbeit stärken?

Magie des Wir-Gefühls

Wollen Menschen gemeinsam etwas zustande bringen, dann sind sie gezwungen, eine gemeinsame Absicht zu definieren. Ausgangspunkt sind stets eine Problemsituation und ein vielstimmiger Chor verschiedenster Meinungen und Interessen. Und dann muss gestritten werden. Und zwar möglichst konstruktiv.

Sportteams demonstrieren immer wieder, wie sehr Erfolge und Misserfolge vom Teamgeist abhängen und welche überragende Bedeutung der Integration aller Kräfte zukommt. Das ist die Magie des Wir-Gefühls.

Aber wie gelingt es, die Kräfte zu bündeln? Wie lassen sich Menschen dazu bringen, an einem Strang zu ziehen? Wie finden Teams eine neue gemeinsame Ausrichtung? Wenn ich auf meine mehr als 20-jährige Praxis als Managementberater zurückblicke, dann ging es fast immer nur um dieses Thema: die Bildung des „Wir“, die Kreation einer neuen gemeinsamen Situation. Wie muss ein Teamchef vorgehen, damit sich alle für eine Lösung engagieren? Die in meiner Beratungspraxis gesammelte Expertise lege ich in diesem Buch vor. Es verkündet keine neue Managementmethode. Nein, es schöpft aus der sorgfältigen Beobachtung der alltäglichen Bemühungen von Menschen um Konsens. Für den Weg zu gemeinsamem Handeln ist dies ein „Kursbuch“.

Wer Kräfte bündeln will, muss streiten lernen

Die Beschreibung des Einigungsprozesses wird zeigen: Wenn die Diskussion in Gruppen zum Konsens führen soll, geht es – entgegen der landläufigen Meinung – nicht herrschaftsfrei zu. Im Gegenteil: Die Leitung ist als Ordnungsfaktor des Geschehens unverzichtbar. Elitäre, kooperative und autoritäre Stilelemente sind innerhalb eines Prozesses gleichermaßen wichtig. Aber immer zur rechten Zeit und in geeigneter Dosierung. Konstruktive Streitkultur zu initiieren und zu führen, ist keine leichte Aufgabe. Wer die Kräfte bündeln will, muss streiten lernen und lehren.

Dazu bedient sich das Buch eines vierphasigen Prozessmodells. Dieses Prozessmodell dient als Leitfaden auf dem Weg vom Problem bis zur Lösung, die alle mittragen und umsetzen. Mithilfe dieses Modells fällt es der Führung leichter, sich im Gesamtverlauf zu orientieren, Situationen präziser einzuordnen, gezielter zu intervenieren und Wichtiges nicht zu versäumen.

Die in diesem Buch geschilderten Beispiele entstammen ausnahmslos der Arbeitswelt. Das Prozessmodell lässt sich aber überall anwenden, wo Menschen sich um gemeinsames Handeln bemühen. Das Buch startet mit einem Beratungsfall, in dem die Krise eines Teams überwunden wurde. Diese Schilderung stellt das Prozessmodell in seinem Gesamtverlauf dar. Anschließend untersuche ich jede Phase des Prozesses tiefer, um auftauchende Schwierigkeiten zu bewältigen oder gar ganz zu vermeiden.

 

Heinz Becker

 

Heinz Becker berät Führungskräfte in Problemsituationen und hält Vorträge zu den entscheidenen Themen der Vitalität von Menschen und Organisationen. Dieser Beitrag stammt aus seinem aktuellen Buch Unternehmen brauchen Streitkultur, das im Hanser Verlag erschienen ist.

Die Ratgeber-Redaktion

Unter der Autor:innen-Bezeichnung REDAKTION veröffentlichten DIE RATGEBER von 2010 bis 2020 Gastbeiträge sowie Agenturmeldungen. Im August 2020 gingen die Inhalte von DIE RATGEBER auf die Webseite WIR SIND DER WANDEL über.