Unverständnis für Bewerber-Belange kann sich heutzutage niemand mehr leisten. So mancher Arbeitgeber wird wohl allein deswegen vom Markt verschwinden, weil er keine qualifizierten Talente mehr findet, die für ihn tätig sein wollen. Bewerberaffine Candidate Journeys sind insofern heute ein Muss.
Ein Gastbeitrag von Anne M. Schüller
Moderne Unternehmen setzen sich mit jedem einzelnen Interaktionspunkt einer Candidate Journey, der Reise eines Kandidaten durch den Bewerbungsprozess, intensiv auseinander. Und sie versuchen, das, was dort passiert, für den jeweiligen Aspiranten so ansprechend wie möglich zu machen – damit sie die erste Garde im Arbeitsmarkt für sich gewinnen. Wer einem zum Beispiel die Zeit stiehlt, weil alles so langwierig und altmodisch ist, braucht sich über mangelnden Zuspruch nicht zu wundern.
Vor allem die besten Young Professionals können sich aussuchen, bei wem sie für ein Kennenlernen optieren. Deshalb müssen die Arbeitgeber genau dort präsent sein und positiv in Erscheinung treten, wo die jungen Talente suchen. Doch nur die Millennials selbst können dem Recruiting zeigen, wie und wo sie sich jeweils mit Informationen versorgen – und was ihnen dabei zusagt oder missfällt. Unglaublich viel wird nur deshalb so schlecht oder falsch gemacht, weil das Feedback der jungen Generation fehlt.
Die Belange der Bewerber-Zielgruppen verstehen
Wer als Bewerber mit Unternehmen interagiert, ärgert sich reichlich: über den Spamfaktor von Active Sourcing, die mangelnde Nutzerfreundlichkeit einer Website, das nicht mobiloptimierte Bewerbungsformular, fehlleitende Stellenbeschreibungen, verstaubte Inserate, geschönte Fakten, endlose Reaktionszeiten, Standard-Interviews, respektloses Verhalten, nicht eingehaltene Versprechen und so weiter und so fort.
Ursache dafür sind überholte Verfahren aus der Vergangenheit, Methodenhörigkeit, unangebrachte Arroganz, antiquarische Bürokratie und ein Mangel an Bewerberorientierung. Man schwelgt in Prozessen, die für das Unternehmen zwar praktisch, für die Kandidaten jedoch ätzend sind. Selbst die vielversprechendsten Leute kommen sich dabei nicht wie Umworbene, sondern wie Bittsteller vor.
Das ist fatal. Denn wie bei einer echten Reise will man auch von seiner Reise durch die Recruiting-Landschaft erzählen. Und sowas hinterlässt Spuren: in den Köpfen und Herzen der Menschen – und oft genug auch im Web. Auf die Vorentscheidungen neuer Bewerber haben solche Erfahrungsberichte erheblichen Einfluss. So fallen viele Firmen durchs Rost, bevor es überhaupt zu einer ersten Kontaktmöglichkeit kommt.
Candidate Journeys im Workshop entwickeln
In einem eintägigen Workshop mit einer Auswahl von Mitarbeitern, denen Jobsuchende im Verlauf des Bewerbungsprozesses begegnen, lassen sich Candidate Journeys entwickeln. Auch Kollegen, die erst vor kurzem eingestellt worden sind sowie ein paar Millennials sollten unbedingt daran teilnehmen können.
Am besten beginnt man mit folgenden Aufgabenstellungen, die in vier Kleingruppen bearbeitet werden:
- Was ich als Bewerber anderswo ganz gewiss nicht erleben möchte.
- Was mich als Bewerber ganz besonders begeistern würde.
- Typische positive Erlebnisse eines Bewerbers bei uns im Recruiting-Prozess.
- Typische negative Erlebnisse eines Bewerbers bei uns im Recruiting-Prozess.
Anschließend wird eine prototypische Candidate Journey entwickelt. Diese wird optisch wie eine Reiseroute dargestellt. Chronologisch zeigt sie die möglichen Haltepunkte und Etappenziele und das, was ein Bewerber dabei so alles erlebt. Elementar bei dieser Betrachtung ist der Blickwinkel des Bewerbers, denn der allein zählt. Was aus binnenpolitischer Sicht, also für Sie, praktisch wäre, ist für ihn nicht entscheidend.
Wie die Candidate Journey dokumentiert wird
Theoretisch lässt sich eine Unzahl verschiedener Candidate Journeys entwickeln. Am besten konzentrieren Sie sich deshalb zunächst auf eine, die erfolgskritisch ist. Legen Sie dazu fest, welches Szenario Sie für welchen Bewerbertyp untersuchen wollen. Zum Beispiel: Ein Hochschulabsolvent bewirbt sich um seine erste Stelle.
Definieren Sie im Vorfeld eine Candidate Persona, das ist ein prototypischer Stellvertreter einer Bewerbergruppe, der deren charakteristische Eigenschaften, Erwartungshaltungen und Vorgehensweisen in sich vereint. Personas beinhalten also sowohl fachliche als auch persönliche Komponenten. Hierdurch wird sichergestellt, dass ein Bewerber nicht nur zum Job, sondern auch zur Unternehmenskultur passt.
Beim anschließenden Dokumentieren einer Candidate Journey wird, wie bei einer Collage, auch gemalt und geklebt. Ausgewählte Geschichten, beispielhafte Meinungen und symptomatische Bewertungen aus Online-Portalen werden angeheftet. Enttäuschungs- und Begeisterungsfaktoren werden gelistet. Dos und Dont‘s werden benannt. Wichtige Einstiegs- und Ausstiegspunkte werden hervorgehoben.
Was fehlt, wird ergänzt. Was überflüssig ist, wird gestrichen. Was verbessert werden muss, wird markiert. Das Ganze wird am besten auf Pinnwände übertragen, sodass man alles für den Projektfortgang in seine Abteilung mitnehmen und weiter bearbeiten kann. Alternativ lassen sich auch Whiteboards oder Multimediawände nutzen.
Im Anschluss an die Visualisierung wird eine Prioritätenliste der zu bearbeitenden Touchpoints, der Interaktionspunkte zwischen Bewerber und Arbeitgeber, erstellt. Nach der vorbehaltlosen Erfassung der dortigen Ist-Situation wird eine gewünschte oder notwendige Sollsituation definiert und ein Maßnahmenplan hierzu entwickelt. Dieser wird in den angepeilten Zeitlinien zügig umgesetzt. Im Anschluss daran wird das Ergebnis anhand passender Messgrößen geprüft und dokumentiert.
Auch für Onboarding- und Offboardingprozesse geeignet
Ist die Methodik erst mal bekannt, kann sie auf weitere Prozesse im Unternehmen übertragen werden. Zum Beispiel lässt sich so auch der Onboarding-Prozess, also Ankommen und Einarbeitung der neuen Mitarbeiter, optimieren, was vor allem aus Sicht der Millennials in vielen Organisationen dringend notwendig ist.
Die Society for Human Resource Management (SHRM) fand zum Beispiel heraus: 15 Prozent aller neuen Mitarbeiter sind bereits am ersten Arbeitstag so entsetzt von dem, was sie erleben, dass sie sofort wieder gehen möchten. Im Gegensatz zu früher setzen das die jungen Talente dann zügig in die Tat um.
In fortschrittlichen Firmen werden bereits die unterschiedlichsten Employee Journeys entwickelt, was das Bleiben guter Mitarbeiter unterstützt. Schließlich lässt sich ein reibungsloser Offboarding-Prozess, im Rahmen dessen Mitarbeiter das Unternehmen verlassen, durch ein entsprechendes Journey-Konzept gut unterstützen.
Anne M. Schüller, Keynote-Speakerin, Bestsellerautorin und Businesscoach, gilt als eine der führenden Expertinnen für „Touchpoint Management“ und kundenfokussierte Unternehmenstransformation. In ihrem aktuellen Buch Fit für die Next Economy zeigt sie, wie man die hellsten jungen Köpfe zu den engsten Beratern machen kann.