Europa durchläuft einen doppelten Wandel: digital und grün. Doch anstatt in neue Fähigkeiten zu investieren, klammert sich die Politik an veraltete Aktivierungsprogramme – und verschärft damit die Spaltung der Arbeitswelt.
Die Industrieländer stehen vor einem doppelten Wandel: digital und ökologisch. Roboter, KI, erneuerbare Energien, Pflege und Handwerk treiben die Nachfrage nach neuen Fähigkeiten in die Höhe. Gleichzeitig fehlen Fachkräfte. Ganze Generationen gehen in Rente, und die entstehenden Lücken lassen sich weder durch Zuwanderung noch durch Aktivierungsprogramme schließen.
Jahrzehntelang setzte Europas Arbeitsmarktpolitik auf Aktivierung. Arbeitslose sollten schnellstmöglich irgendeinen Job finden. Weiterbildung? Ein Randthema. Hauptsache, die Beschäftigungsquote stimmte.
Diese Logik greift heute nicht mehr. Die Forscher:innen Giuliano Bonoli, Patrick Emmenegger und Alina Felder-Stindt zeigen in einer internationalen Vergleichsstudie, dass kaum ein Land seine Arbeitsmarktpolitik strategisch auf Reskilling ausgerichtet hat – trotz massiver Fachkräfteengpässe.
Schulungsbudgets stagnieren
Die Analyse von Dänemark, Frankreich, Deutschland und Schweden zeigt: Kein Land hat seine Qualifizierungsprogramme in der Aktiven Arbeitsmarktpolitik (ALMP) nennenswert ausgebaut. Die Ausgaben für Schulungen stagnieren – oder sinken. Die politische Marschrichtung bleibt: Aktivieren statt ausbilden.
Ein Beispiel: Deutschland führte 2023 das „Bürgergeld“ ein, um Langzeitarbeitslose besser zu fördern. Doch die Reform blieb symbolisch: Ein 150-Euro-Bonus für Weiterbildung, während Sanktionen verschärft wurden. Die Botschaft ist klar: Kontrolle vor Kompetenz.
Weiterbildung wandert aus der Arbeitsmarktpolitik
Trotzdem tut sich etwas – nur anderswo. Die Dynamik verlagert sich von der Arbeitsmarktpolitik zur Erwachsenenbildung. Was wie ein semantisches Detail klingt, markiert einen Paradigmenwechsel. Arbeitsmarktprogramme zielen weiterhin auf „arbeitsmarktferne“ Gruppen wie Migranten, Ältere oder Geringqualifizierte. Die neue Weiterbildungswelle richtet sich jedoch an Beschäftigte.
Ökonomen sprechen von einer „Training Queue“ – einer Warteschlange für Bildungsangebote. Wer dem Arbeitsmarkt nahe steht, erhält zuerst Zugang. Wer weiter hinten steht, bleibt außen vor. Weiterbildung wird so zum Privileg derjenigen, die ohnehin Arbeit haben.
Bildung als Wirtschaftspolitik
Dänemark zeigt, wie Weiterbildung neu gedacht werden kann. Das Land setzt auf praxisnahe Erwachsenenbildung und investiert seit den 2000er-Jahren gezielt in berufliche Umschulungen. Erwachsene über 30 können als „Erwachsenen-Auszubildende“ in Branchen mit Fachkräftemangel einsteigen – mit Gehalt und staatlicher Unterstützung.
Auch Schweden nutzt die Krise als Chance. Seit 2022 ersetzt die Übergangsunterstützung bis zu 80 Prozent des Gehalts, wenn Beschäftigte sich ein Jahr weiterbilden. Arbeitgeber, Gewerkschaften und Staat finanzieren das System gemeinsam – ein Modell, das Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik verbindet.
Individualisierte Weiterbildung
Deutschland versucht mit dem Qualifizierungschancengesetz (2019) und dem Arbeit-von-morgen-Gesetz (2020) gegenzusteuern. Doch auch hier richten sich die Programme vor allem an sozialversicherungspflichtig Beschäftigte – nicht an jene, die außen vor sind.
Frankreich hat mit dem „Compte personnel de formation“ (CPF) ein persönliches Bildungskonto eingeführt. Beschäftigte erhalten jährlich bis zu 500 Euro für Fortbildungen. Doch auch dieses Modell zeigt die Kluft: Weiterbildung wird individualisiert. Wer sie nutzen will, kann das tun. Wer sie am dringendsten braucht, bleibt oft ausgeschlossen.
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Eine stille Spaltung des Arbeitsmarkts
Die Verlagerung der Reskilling-Politik in die Erwachsenenbildung hat Folgen. Die Studie warnt vor einer neuen Spaltung des Arbeitsmarkts. Beschäftigte verbessern ihre Chancen im digitalen und grünen Arbeitsmarkt, während Arbeitslose und Geringqualifizierte den Anschluss verlieren.
Das politische Dilemma ist brisant:
– Aktivierungsprogramme beheben Rückstände, aber sichern nicht die Zukunft.
– Weiterbildungssysteme fördern die Starken, nicht die Schwachen.
Die Gefahr: Ein wachsender Graben zwischen Bildungsgewinnern und -verlierern – mit sozialer Sprengkraft, die Europas Wirtschaftspolitik unterschätzt.
Brücken statt Barrieren
Die Autor:innen zeigen jedoch Auswege. Ihre Botschaft: Reskilling darf kein Exklusivprogramm für Insider bleiben. Es braucht Brücken zwischen Arbeitsmarktpolitik und Erwachsenenbildung. Dänemark experimentiert bereits mit solchen Übergängen: Arbeitslose können über kommunale Förderungen direkt in berufliche Erwachsenenbildung wechseln.
Deutschland testet „Teilqualifikationen“, die in kleinen Lerneinheiten zu anerkannten Abschlüssen führen – eine Chance für Menschen ohne Berufsabschluss. Schweden öffnet berufliche Programme zunehmend für Quereinsteiger und Migranten, um Integration und Qualifizierung zu verbinden. Das Ziel: Reskilling als gesellschaftliche Investition, nicht als privates Privileg.
Vom Reparaturmodus zur Erneuerung
Europa steht an einem Wendepunkt. Die industrielle Transformation ist in vollem Gange, doch die politische Antwort bleibt rückwärtsgewandt. Bonoli, Emmenegger und Felder-Stindt zeigen: Die Zukunft des Arbeitsmarkts entscheidet sich nicht durch Aktivierung, sondern durch Bildung. Reskilling ist keine Sozialmaßnahme, sondern strategische Wirtschaftspolitik – die Basis für Wettbewerbsfähigkeit in der grünen und digitalen Ära.
Wer heute in Erwachsenenbildung investiert, stärkt Innovationskraft, soziale Stabilität und langfristige Beschäftigung. Oder, wie die Autor:innen es sinngemäß sagen: Die Zukunft der Arbeit liegt nicht in der Kontrolle der Arbeitslosen, sondern in der Qualifizierung der Beschäftigten.

