Schuldgefühle – Segen oder Fluch?

Verschwommene Person auf Rolltreppe

Schuldgefühle können unangenehm und hartnäckig sein. Instinktiv versuchen wir, sie zu vermeiden: Wir befolgen moralische oder soziale Gesetze, streben nach Ausgleich von Geben und Nehmen oder entschuldigen uns für ein Unrecht. Manchmal engagieren wir uns bis zum Burnout, scheuen Verantwortung oder schieben Entscheidungen hinaus. Das beeinflusst Lebenswege und Karriereschritte.

Ein Gastbeitrag von Helga Kernstock-Redl

Wann fühlten Sie zuletzt einen dieser nagenden Quälgeister? Die meisten von uns müssen da nicht lange überlegen. Doch warum haben manche so viele Schuldgefühle, während sich andere niemals schuldig fühlen? Wieso haben Frauen, so die Aussage in vielen psychologischen Studien, eindeutig die Nase vorn? Die Antwort ist einfacher, als Sie vielleicht denken: Schuldgefühle folgen einer durchaus faszinierenden (Psycho-)Logik. Wer diese durchschaut hat, kann sie steuern, anstatt von ihnen tyrannisiert zu werden.

Objektiv betrachtet ist es einfach: Sobald wir eine allgemein anerkannte gesetzliche, soziale oder moralische Regel brechen sowie zusätzlich weitere Kriterien wie zum Beispiel Zurechnungsfähigkeit oder echte Wahlmöglichkeit erfüllt sind, werden wir „schuldig“. Eine Geschwindigkeitsübertretung bringt mir eine Anzeige samt Strafe ein. Doch nur, wenn ich ein verinnerlichtes, also ein persönlich wichtiges Gesetz missachte, entwickle ich ein Schuldgefühl.

Wer also viele innere Regeln hat, besonders „ehrenwert“ leben will, vielleicht sogar nach Perfektionismus strebt, wird sich zwangsläufig oft schuldig fühlen. Veraltete „Kinderregeln“ wie beispielsweise „Ich muss alle Erwartungen erfüllen“ oder widersprüchliche innere Gesetze sind ebenso ein Garant dafür: Sie wollen immer beruflich erreichbar und immer für Ihre Kinder oder alte Eltern da sein? Egal, was Sie tun, Sie werden sich beständig schuldig fühlen, denn beides gleichzeitig zu erfüllen, das geht einfach nicht. Frauen haben im Durchschnitt wohl deshalb öfter Schuldgefühle, weil sie mehr inneren Regeln folgen als Männer. Natürlich sagen Durchschnittswerte nichts über das faszinierende Unikat aus, das Sie sind oder das vor Ihnen sitzt.

Zu viele Schuldgefühle machen depressiv und krank

Neben diesem höchstpersönlichen Moralkodex gibt es manchmal noch andere Auslöser für dieses Gefühl wie zum Beispiel überstarke Empathie oder Kontroll-Illusionen durch das hartnäckige Gefühl, an etwas Unbeeinflussbarem doch irgendwie mit schuld zu sein. Dann wird’s besonders spannend und verrät einiges über unterbewusste Vorgänge.

Doch klar ist auch: Zu viele Schuldgefühle machen depressiv und krank, weil sie uns in Dauerstress versetzen, am Selbstwert nagen und in die Erschöpfung treiben. Dabei haben sie so viel Gutes für die Entwicklung der Menschheit getan: Weil Schuldgefühle so unangenehm sind, wollen wir sie instinktiv vermeiden. Wir halten uns deshalb an anerkannte Spielregeln und handeln „moralisch“. Wir wollen ein von uns verschuldetes Unrecht wieder gut machen, aus Fehlern lernen oder ein Leben führen, wo Geben und Nehmen in Balance ist. Schuldgefühle wirken als machtvolle Motivatoren in jenen Momenten, wo Liebe, Fürsorge, Vernunft oder Angst vor Strafe nicht ausreichen. Sie halten Gemeinschaften zusammen, helfen beim Erhalt von Frieden oder bei der Konflikt-Deeskalation, weil wir verursachten Schaden ausgleichen oder Gerechtigkeit wiederherstellen wollen.

Deshalb gilt: Zu viele verhindern genussvolles Leben, doch zu wenige sind keinesfalls erstrebenswert. Wer keine Schuldgefühle kennt, der hat „keinen Genierer“, wie man in Österreich zu sagen pflegt. Schuldgefühlsbefreite in Führungsetagen wirken zwar charismatisch und treffen ohne viel Zögern klare Entscheidungen. Aber sobald ein Mensch keine „Moral“ kennt und keinen verbindlichen, inneren Gesetzen folgt, hat er wenige „Hemmungen“, handelt unvorhersehbar. So eine Person ist vielleicht durchaus geschäftstüchtig und finanziell erfolgreich, doch im Freundeskreis wollen wir so jemanden mit Sicherheit nicht haben. Daher ist es absolut verständlich, dass eine psychologische Studie zeigt: Wir bringen Menschen mit Schuldgefühlen mehr Vertrauen entgegen.

Es kann schwierig sein, ein tief verwurzeltes Gesetz loszuwerden

In einer Führungsposition ist es extrem wichtig, sich sehr bewusst zu werden, welchen inneren Regeln man folgt und ob sie heute noch gelten. Daher: Sobald Sie ein Schuldgefühl spüren, halten Sie inne und suchen die (unbewusste) Regel, die Sie verletzt haben. Wollen Sie diese wirklich auch in Zukunft behalten? Einige davon können nämlich falsch oder hoffnungslos veraltet sein. Sie stammen vielleicht aus Kindertagen und wurden seither nie überprüft: „Ich muss tun, was Autoritäten sagen.“ Oder das Gegenteil: „Andere müssen tun, was ich sage.“ Vielleicht folgen Sie auch dem Gesetz „Ich darf nicht an mich denken“. Manche berichten von Erfahrungen, die in der Überzeugung münden: „Ich darf keinesfalls zugeben, schuldig zu sein, sonst werde ich furchtbar bestraft.“

Glücklicherweise können wir als Erwachsene selbst wählen lernen, wofür wir uns in Zukunft schuldig fühlen wollen. Vielleicht ist es an der Zeit, Altes ablegen oder Neues hinzufügen: „Ich muss täglich einmal etwas für meine Gesundheit tun. Das bin ich mir schuldig.“ ist vielleicht eine Idee, wo wir ganz bewusst Schuldgefühle für uns arbeiten lassen, weil wir sie selbstbestimmt als Motivationshilfe einsetzen.

So viel zur Theorie. In der Praxis kann es schwierig sein, ein tief verwurzeltes Gesetz loszuwerden wie zum Beispiel: „Ich muss alle Erwartungen erfüllen.“ Eine Veränderung beginnt manchmal mit einer winzigen Neu-Entscheidung: „Ich muss fast immer …“. Manche lassen sich radikal durch die Technik der Zeitreise verändern. Oder es hilft, der „Pflicht“ ein „Recht“ entgegen zu setzen: „Ich will Erwartungen erfüllen, doch nicht um jeden Preis: Ich habe das Recht, meinen Zielen Priorität zu geben.“

Schuldgefühle guten Gewissens hinter sich lassen

Für vergangene „Missetaten“ gilt: Schuldgefühle nach realer, schwerer Schuld können abgelegt werden – irgendwann hat fast jeder und jede genug gebüßt. Das gilt auch für jene, die eindeutig ungerechtfertigt sind, aber trotz besseren Wissens weiter belasten. In 20 Jahren Coaching und Therapie sind mir mehr als 12 Wege begegnet, die Menschen gefunden haben, um Schuldgefühle guten Gewissens hinter sich zu lassen: Entschuldigen, um Verzeihung bitten, Wiedergutmachung leisten, Strafe und Rache ertragen, das Gesetz verändern, den Weg durch die Trauer gehen und vieles mehr.

Schuldgefühle verfolgen aus Sicht der Biologie gute Absichten. Sie machen überdies innere Regelwerke sichtbar und bewusst. Dieses Gefühl zu bemerken, zu hinterfragen, aktiv zu nutzen und bewusst zu steuern, fördert Persönlichkeitsentwicklung, Wohlbefinden und Problemlösung. Gefühle gut managen zu lernen, bringt Sicherheit im Umgang damit. Es ist ähnlich wie beim Auto- oder Schifahren: Wer weiß, dass man Tempo und Weg aktiv bestimmen und jederzeit bremsen kann, braucht keine Angst mehr vor „Vollgas“ zu haben.

Ein Beispiel:
Frau A. kommt ins Coaching. „Die weiß, was sie tut.“, denke ich mir schon nach den ersten Minuten: Mitte 50, sympathisch, kompetent. Entsprechend angesehen ist sie in ihrem Job. Daneben lebt sie ein erfülltes Privatleben. Man merkt, dass sie sich auch mit sich selbst auseinandersetzt und im Einklang mit ihrem Körper lebt, auch wenn sie von einzelnen Stressanzeichen berichtet. Doch sie erzählt mir: „Ich merke, ich werde wieder unzufrieden. Ich fühle mich unterfordert und sehe so viele Verbesserungsmöglichkeiten.“ Das kenne sie bereits von früher und hätte deshalb ihr Leben lang immer nach etwa fünf Jahren begonnen, sich nach einer neuen Firma umzusehen, obwohl in der alten eigentlich alles passte. Nun ist es wieder so weit. Doch jetzt möchte Frau A. nicht mehr wechseln. Sie möchte das Muster durchbrechen.

Irgendwann frage ich nach ihren ursprünglichen Karriereplänen. Denn mich wundert, dass sie in keiner Führungsposition sitzt. Es wäre meiner Einschätzung nach genau der Platz, den sie sich verdient hätte. Sie erzählt, dass sie eine solche Karriere nie hätte machen wollen. „Wann genau haben Sie das beschlossen?“, frage ich. Sie meint nachdenklich, in der Volksschulzeit wäre sie noch gern die „Chefin“ gewesen. Damals hätte sie sogar das Abschlussgeschenk für die Lehrerin organisiert. Irgendwann fällt ihr das prägende Schuld-Erlebnis ein: Als Jugendliche war sie Teamleiterin beim üblichen Abschlussquiz in einem Ferienlager. Nur mehr ihr Team und ein anderes waren im Rennen. Sie wusste sogar noch die Frage, um die es damals ging: „Was ist das wichtigste Fest der katholischen Kirche?“ Ihr Team war unentschlossen, also traf sie eine Entscheidung und antwortete mit „Weihnachten“. Das kostete dem Team den Sieg, es hagelte Vorwürfe. „Vernünftig betrachtet war es eigentlich nur eine Kleinigkeit“, so Frau A. Doch die Erinnerung war lange noch von einem quälenden Schuldgefühl begleitet. Ich suche mit ihr das gebrochene Gesetz. „Ich darf niemandem schaden“ war immer schon eine wichtige innere Regel gewesen. Unbewusst beeinflusste dieses Bemühen, eine Wiederholung dieses Schuldgefühls zu vermeiden, entscheidend ihr Leben. Nun erkennt sie: Dieses Problem kann sie nicht durch den Wechsel der Firma lösen. Es braucht einen Wechsel der Position.

Frau A. wird klar, dass es an der Zeit ist, genau jene Verantwortung zu übernehmen, für die sie inzwischen mehr als qualifiziert ist. Beim emotionalen Abschluss der Erinnerung hilft ihr die Übung der Zeitreise und die Erkenntnis, dass sie durch die falsche Entscheidung gar keinen wirklichen Schaden verursacht hatte. Es war damals Unrecht, ihr die Schuld zu geben. Immerhin hatte sie damals das Team über viele richtige Antworten und Entscheidungen bis ins Finale geführt.

Frau A. merkt, dass sie die alte Regel verändern muss, wenn sie als Führungskraft nicht innerlich daran zerbrechen will. Sie verändert das Gesetz und ich bestärke sie im Aufbau eines Rechtes: „Ich werde mich bemühen, Entscheidungen zu treffen, die so gut wie möglich für alle Beteiligten sind. Doch ich darf auch Fehler machen.“ Nun steht ihrem Karriereschritt keine Angst mehr vor Schuldgefühlen im Weg.

 

Das Spezialgebiet von Helga Kernstock-Redl, Coach, Supervisorin, Psychologin und Psychotherapeutin, ist die Psycho-Logik von Gefühlen und der nützlicher Umgang damit in allen Lebenslagen – unter Einbeziehung von Erkenntnissen der modernen Psychologie. Ihr Buch Schuldgefühle – Woher sie kommen, warum sie Ängste verursachen, wie sie unser Leben unterschwellig lenken und wie wir sie ablegen können ist jüngst im Goldegg Verlag erschienen.

die Chefin-Redaktion

Unter der Autor:innen-Bezeichnung REDAKTION veröffentlichte „die Chefin – der Blog für Führungsfrauen“ Gastbeiträge sowie Agenturmeldungen. Im August 2020 gingen die Inhalte des Blogs auf die Webseite WIR SIND DER WANDEL über.