Bernhard Eickenberg, Experte für Selbstorganisation, zeigt, wie Unternehmen mit Vertrauen, klare Strukturen und geteilter Verantwortung schneller, innovativer und stabiler arbeiten.
Montagmorgen. Zwei Wochen Urlaub liegen hinter Ihnen – ohne Anrufe, ohne E-Mails. Im Büro herrscht Ordnung. Keine offenen Fragen, keine Krisen. Probleme wurden gelöst, Entscheidungen getroffen, Projekte laufen weiter. Ihr Team hat eigenständig gehandelt. Nicht perfekt, aber effektiv.
Was wie eine Utopie klingt, beschreibt Bernhard Eickenberg in seinem Buch „Die fünf Säulen der Selbstorganisation“ als realistische Perspektive für Unternehmen, die den Wandel aktiv gestalten. Sein Kernargument: Wer Verantwortung gezielt teilt, gewinnt Tempo, Innovationskraft und Stabilität – gerade in unsicheren Zeiten.
Hierarchie als Bremsklotz
Viele Unternehmen stecken in starren Hierarchien fest. Entscheidungen klettern über mehrere Ebenen nach oben, werden in Gremien vertagt, abgesichert und Wochen später nach unten weitergereicht. Doch in einer Welt, in der Märkte, Technologien und Kundenwünsche sich im Wochenrhythmus ändern, ist diese Trägheit fatal.
Eickenberg illustriert das eindrucksvoll: Während das Fernsehen 22 Jahre brauchte, um 25 Prozent Marktdurchdringung zu erreichen, schaffte das iPhone dies in weniger als drei Jahren, Pokémon GO sogar in nur 19 Tagen. Wer mithalten will, muss Entscheidungen schneller treffen. Das gelingt nicht durch mehr Kontrolle, sondern durch ein System, das Verantwortung auf Mitarbeitende überträgt und ihnen die nötigen Rahmenbedingungen bietet.
Fehlende Selbstorganisation zeigt sich in typischen Symptomen: „Dienst nach Vorschrift“, Eskalation an Führungskräfte, langsame Reaktionen auf Marktveränderungen, Abhängigkeiten von Einzelpersonen. Unternehmen sabotieren sich damit oft selbst – unbewusst. Eickenberg zitiert ironisch das „Simple Sabotage Field Manual“ der USA aus dem Jahr 1944, das genau solche Strukturen als effektive Methode zur Lahmlegung empfiehlt.
Vertrauen, Struktur, Haltung
Der Schlüssel liegt nicht in Appellen an die Unternehmenskultur, sondern im Design eines Systems. Selbstorganisation entsteht nicht aus gutem Willen, sondern aus klaren Strukturen, die Verantwortung ermöglichen.
Eickenberg fasst seine Erfahrung als Berater in ein Modell aus fünf Säulen und einem Fundament:
- Selbstbestimmung:
Mitarbeitende müssen eigenständig entscheiden können. Empowerment geht über Delegatin hinaus. - Alignment:
Ein gemeinsames Verständnis von Zielen, Prioritäten und Strategien ist unverzichtbar. - Transparenz:
Teams brauchen Zugang zu relevanten Informationen, Kennzahlen und Feedback, um eigenständig zu steuern. - Motivation:
Autonomie, Sinn und Entwicklungsmöglichkeiten stärken die intrinsische Motivation. - Kompetenz:
Selbstorganisation erfordert fachliche, kommunikative und kollaborative Fähigkeiten auf allen Ebenen.
Das Fundament: Vertrauen. Führungskräfte müssen darauf vertrauen, dass Mitarbeitende ihr Bestes geben und offen mit Fehlern umgehen. Umgekehrt müssen Mitarbeitende sicher sein, dass sie Fehler ansprechen können, ohne Sanktionen zu fürchten.
Eickenberg vergleicht ein gut gestaltetes System mit einer modernen Heizung: Statt wie ein Holzofen ständig manuell gesteuert zu werden, reguliert es sich selbst – basierend auf klaren Zielen, Sensoren und verlässlichen Mechanismen. Führung bedeutet in diesem Kontext nicht Kontrolle, sondern Rahmen setzen, Feedback geben und unterstützen.
Praxisbeispiele zeigen den Weg
Dass Selbstorganisation funktioniert, beweisen Unternehmen aus verschiedenen Branchen. Ein Beispiel ist allsafe, ein mittelständisches Produktionsunternehmen. Geschäftsführer Detlef Lohmann schaffte klassische Abteilungen ab und organisierte das Unternehmen in sieben funktionsübergreifende Teams. Logistik, Produktion und Qualitätskontrolle arbeiten integriert, Entscheidungen fallen dort, wo die Informationen liegen. Das Ergebnis: deutlich höhere Effektivität und eine zwei- bis dreimal höhere Profitabilität im Vergleich zur Konkurrenz.
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Noch radikaler agiert Buurtzorg, ein niederländisches Pflegeunternehmen. Über 15.000 Pflegekräfte arbeiten in rund 1.000 selbstorganisierten Teams – ohne Teamleiter:innen, ohne zentrale Personalabteilung. Die Teams stellen selbst ein, organisieren ihre Arbeit und ziehen bei Bedarf regionale Coaches hinzu. Das Ergebnis: 30 Prozent höhere Kundenzufriedenheit, 33 Prozent weniger Krankheitsausfälle, 67 Prozent geringere Overheadkosten. Das Modell wurde in 23 Länder exportiert.
Auch kleinere Organisationen profitieren. Eine Marketingagentur mit 15 Mitarbeitenden stand vor dem typischen Engpass: Alle zentralen Entscheidungen liefen über die Gründerin. Mit Methoden wie dem „Meddlers Game“ und „Delegation Poker“ wurden Verantwortlichkeiten neu verteilt. Schritt für Schritt entstand ein System, in dem Teams eigenständig Prioritäten setzen. Die Gründerin gewann Freiraum für Strategie und Familie – das Unternehmen wurde belastbarer.
Führung neu denken
Selbstorganisation bedeutet nicht den Verzicht auf Führung. Im Gegenteil: Die Rolle wandelt sich von Entscheider:innen zu Architekt:innen des Systems. Führungskräfte definieren Ziele, schaffen Transparenz, fördern Kompetenzen und stärken das Fundament des Vertrauens.
Eickenberg betont, dass Selbstorganisation kein einmaliges Projekt ist, sondern ein fortlaufender Prozess. Wie beim Bau eines Hauses müssen alle Säulen gleichmäßig wachsen, sonst wird das Dach instabil. Nicht jedes Unternehmen muss maximale Selbstorganisation anstreben – entscheidend ist, den individuell passenden Reifegrad zu finden.
Geschwindigkeit durch Struktur und Vertrauen
Selbstorganisation ist kein Idealismus, sondern eine Antwort auf die Dynamik der Gegenwart. Unternehmen, die Verantwortung klug verteilen, schaffen die Grundlage für schnellere Entscheidungen, robustere Strukturen und attraktivere Arbeitsumfelder.
Eickenbergs Buch liefert kein Patentrezept, aber ein klares Framework, das Fach- und Führungskräften Orientierung bietet. Der Wandel beginnt nicht mit einem Motivationsworkshop, sondern mit dem bewussten Design von Systemen, die Menschen befähigen – statt sie zu bevormunden.

