So klappt‘s mit Lean Management

Beleuchtete Bürofassade

“Lean Management und Agilität funktionieren bei uns nicht!”, bekommt Michael Habighorst oft zu hören. In einem Selbstversuch demonstriert der überzeugte Lean-Verfechter eindrucksvoll, wie universell anwendbar die Lean-Philosophie ist: Mit dem Fahrrad fährt er allein von Freiburg zum Nordkap und zurück – 9.149 Kilometer.

Schon morgen soll es losgehen: Ihr Unternehmen will alles anders machen, denn die Geschäftsführung hat Lean Management für sich entdeckt. Während sich bei manchen Kollegen gar nichts regt, haben andere fragende Gesichter. Sie könnten nach diesem Beitrag zu jenen gehören, denen bereits schwant, was noch kommt. Aber keine Sorge, „Lean“ ist keine weitere Sau, die durchs Dorf der Managementmethoden getrieben wird. Vielmehr handelt es sich hierbei um einen ganzheitlichen Ansatz, bei dem der Kunde im Mittelpunkt steht – was viel zu oft falsch verstanden wird.

Im Grunde ist Lean schnell zusammengefasst: Hauptziel ist es, das Unternehmen konsequent auf die Wünsche des Kunden auszurichten. Alle Prozesse und Aktivitäten müssen dazu unternehmensweit aufeinander abgestimmt werden – das ist nicht nur kundenorientiert, sondern spart auch Kosten und steigert die Effizienz. Zwar findet Lean Management nur über den Chef seinen Weg ins Unternehmen, doch es betrifft und involviert am Ende jeden Mitarbeiter. Denn die Optimierung macht nicht im Sekretariat des Geschäftsführers halt, sondern erstreckt sich bis in die letzten Winkel der Büros und Produktionshallen. Bis ein Unternehmen sich lean nennen kann, ist es also ein weiter Weg – der aber lohnt sich!

Viele Fach- und Führungskräfte zweifeln an der Wirksamkeit von Lean Management

Weil dieser Zusammenhang oft nicht verstanden wird oder man nicht zur vollständigen Umsetzung bereit ist, bleibt die Lean Transformation häufig stecken. Es geht immerhin um einen Kulturwandel, und das geht nicht von heute auf morgen. Als Lean-Fan und Berater mittelständischer Unternehmen höre ich deshalb immer wieder: „Lean Management funktioniert bei uns nicht.“ Irgendwann wurde mir klar, dass meine Lehre bei Hitoshi Takeda, dem Wegbereiter von Lean Management bei Toyota, nicht ausreicht, um Unternehmen zu schlanken Prozessen zu verhelfen. Es brauchte mehr!

Offensichtlich zweifeln viele Fach- und Führungskräfte an der Wirksamkeit von Lean Management. Ich beschloss, seinen Nutzen greifbar zu machen: Eine lean und agil organisierte Radtour von Freiburg zum Nordkap und zurück. Fast 10.000 Kilometer, bis ich wieder zu Hause sein würde. Tagelange Regenschauer, Gegenwind und endlose Fichtenwälder wurden zu den vielen Herausforderungen, die im Unternehmensalltag mit Auftragsschwankungen, kurzfristig veränderten Kundenwünschen und Ausfallzeiten vergleichbar sind.

„Respect for People“

Gesagt, getan. Auf meiner viermonatigen Reise verbrachte ich täglich fünfeinhalb Stunden auf dem Rad. Mein Ziel, der große Globus – das Wahrzeichen des Nordkaps – rückte nach rund zwei Monaten in greifbare Nähe. In der ganzen Zeit war nur ich es, den ich mir vor meinem geistigen Auge am Ziel vorstellte. Doch je näher ich kam, desto größer die Gesellschaft um mich herum – und plötzlich geriet ich innerlich in einen Tunnel. Ich raste bis zur völligen Erschöpfung davon, nur um als Erster anzukommen. Die Quittung erhielt ich 150 Meter vor der „Ziellinie“: ein Sturz. Schließlich schaffte ich es als Letzter zum Globus, entnervt und des Erfolgserlebnisses beraubt.

Nach Wochen der Anstrengung war mein Zielbild zum Greifen nah und doch zerstörte ich mir das Erfolgserlebnis mit meiner mangelnden Bereitschaft zum Teilen und einem irren Egotrip. Mehr und mehr dämmerte mir, welch irrer Film in meinem Kopf abgelaufen war. Da kam mir der Gedanke an den Lean-Grundsatz „Respect for People“, und ich begriff urplötzlich dessen enorme Tragweite.

Am Ort des Geschehens nach Lösungen suchen

Respekt, Höflichkeit, Disziplin und ein ausgeprägtes Wir-Gefühl zählen zu den wichtigsten Werten in Japan. Es wäre jedoch Unsinn, das Prinzip „Respect for People“ in der Lean-Denkweise auf die japanische Kultur zurückzuführen. Toyota, das Unternehmen, in dem Lean Management entwickelt wurde, lebt seine Firmenkultur schließlich weltweit an allen Standorten.

Ein entscheidendes Detail dieser Kultur macht den Unterschied zur europäischen Herangehensweise. Entstehen bei uns in Unternehmen Probleme, z.B. in der Produktion, setzt man sich zusammen, um sie zu besprechen. Und wo? Im Besprechungsraum! Probleme dort zu lösen, gelingt aber nur zuverlässig, wenn das Problem auch im Besprechungsraum liegt. Für alle anderen Herausforderungen gilt Hitoshi Takedas eiserne Regel: Gemeinsam mit den Mitarbeitern am Ort des Geschehens nach Lösungen suchen. Das ist nicht nur eine Frage des Respekts, sondern des gesunden Menschenverstandes.

In der Denkweise klassischer Unternehmenshierarchien gefangen

Diese Erfahrung machte auch ein Hersteller von Motorengehäusen, der mit Qualitätsmängeln in der Produktion zu kämpfen hatte. Im Konferenzraum zerbrach man sich die Köpfe und setzte den Mitarbeitern schließlich ein 360.000 Euro teures Bearbeitungszentrum vor. Neue Maschine, alte Probleme. Nach einigem Hin und Her war man bereit, sich auf die Lean-Vorgehensweise einzulassen. Das kann im Zweifelsfall bedeuten, sich mit einem ungelernten Arbeiter über technische Probleme zu unterhalten, sofern er im Alltag am nächsten dran ist und den entscheidenden Lösungshinweis geben kann. Nach den Prinzipien der Lean Production betrieben die Mitarbeiter unter Anleitung ein halbes Jahr Trial-and-Error und senkten die Ausschussquote von 20 auf unter einen Prozent – und sparten so eine sechsstellige Summe ein. Dabei lag der entscheidende Lösungsfaktor in neuen Spannbacken für gerade einmal 2.500 Euro.

In der Ausbildung zum Lean-Experten lernt man, sich als Experte für Problemlösungen zu sehen, nicht als Experte für die Probleme selbst. Diese Haltung ist in europäischen Unternehmenskulturen jedoch nicht sehr verbreitet. Gerade im produzierenden Mittelstand definieren sich viele Chefs immer noch als Allwissende und Alleskönner. In einer Lean-Kultur hingegen wissen Führungskräfte, dass sie für die meisten Probleme anfangs keine Lösung haben – und kommunizieren das auch an ihre Mitarbeiter, die dafür umso mehr mit in der Verantwortung stehen, gemeinsam Lösungen zu finden.

Wer die Lean-Grundsätze mit Haut und Haaren lebt, der geht anders an Probleme heran und anders mit Menschen um als jemand, der in der Denkweise klassischer Unternehmenshierarchien gefangen ist. Bei Lean kommt es nicht auf Tools und Methoden an, sondern auf die innere Haltung. So klappt’s dann auch mit Lean Management.

 

Michael Habighorst

Michael Habighorst, Berater für mittelständische Unternehmen, ist eingefleischter Fan der Lean-Denkweise und lernte seinen Ansatz bei Hitoshi Takeda, einem der Begründer des Lean Managements von Toyota. Als zertifizierter Lean Experte, Scrum Master und Six Sigma Master Black Belt verknüpft er diese Prinzipien mit neusten agilen Herangehensweisen. Sein Buch Auf die schlanke Tour – So werden Unternehmen lean und agil ist im Verlag O’Reilly erschienen.

Die Ratgeber-Redaktion

Unter der Autor:innen-Bezeichnung REDAKTION veröffentlichten DIE RATGEBER von 2010 bis 2020 Gastbeiträge sowie Agenturmeldungen. Im August 2020 gingen die Inhalte von DIE RATGEBER auf die Webseite WIR SIND DER WANDEL über.