Tarifverträge? Gelten für die meisten nicht mehr

Mehrere Personen sitzen vereinzelt an Tischen

Nur noch 45 Prozent der Beschäftigten hierzulande haben tarifliche Arbeitsbedingungen. Das zeigen neue Daten des Statistischen Bundesamts. Warum das auch für Unternehmerinnen keine gute Nachricht ist.

Früher handelten starke Gewerkschaften starke Tarifverträge für ganze Branchen aus. Aber schon seit Jahren sinkt sie drastisch. Jetzt zeigen die neuesten Daten des Statistischen Bundesamts: Nicht einmal jeder Zweite hierzulande hat Arbeitsbedingungen, die eine Gewerkschaft im Rahmen eines Tarifvertrags für sie ausgehandelt haben. Die Mehrheit der abhängig Beschäftigten hat also keine Tarifbindung mehr.

Die Daten beziehen sich dabei auf das Jahr 2014, denn ausgewertet werden dabei die Ergebnisse der alle vier Jahre stattfindenden Verdienststrukturerhebung. In sie flossen für das Jahr 2014 die Daten von mehr als einer Millionen Arbeitnehmer in 60.000 Betrieben. Erstmals berücksichtigten die Statistikerinnen und Statistiker dabei auch Kleinstbetriebe mit weniger als zehn Beschäftigten – solche Unternehmen haben freilich selten einen Tarifvertrag und ebenso selten überhaupt einen Betriebsrat. Mitunter unterliegen solche Kleinunternehmen aber der Bindung an einen Flächen- oder Branchentarifvertrag.

Tarifbindung sinkt seit vielen Jahren

Solche Branchentarife gelten für immerhin noch 41 Prozent der Beschäftigten hierzulande. Seltener sind einzelne Firmentarifverträge. Nur vier Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeiten in so einem Betrieb. Den Anteil tarifgebundener Unternehmen selbst bezifferte das Bundesamt auf knapp 15 Prozent.

Die Gründe sind einfach: Immer mehr Arbeitgeber versuchen durch Tarifflucht Kosten bei den Personalausgaben zu sparen. Da werden Töchter gegründet, für die die von den Gewerkschaften ausgehandelten Sozialstandards und Lohngrenzen nicht gelten. Da werden ganze Betriebe umstrukturiert, Leiharbeiter, Crowdworker, Freelancer eingesetzt oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter per Änderungskündigung in die tariflose Tochter versetzt.

Je nach Branche variieren die Bedingungen allerdings sehr stark:In den Bereichen von öffentlicher Verwaltung, Verteidigung und Sozialversicherung liegt die Tarifbindung fast noch bei 100 Prozent, in der Energieversorgung bei 85 Prozent sowie in Erziehung und Unterricht bei 83 Prozent. Die niedrigste Tarifbindung hatte die Land-, Forst- und Fischwirtschaft mit 13 Prozent nach freien Wissenschafts- und Technikdienstleistern mit 20 Prozent. Auch zeigen sich auch 26 Jahre nach der Wiedervereinigung noch deutliche Ost- und Westunterschiede: Während in Westdeutschland noch 46 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen Tarif haben, sind es nur 39 Prozent der Beschäftigten in Ostdeutschland.

Aber was sind die Gründe dafür? Schon unter Helmut Kohl und seiner geistig-moralischen Wende wurden Gewerkschaften als Tarifpartner stark geschwächt. Dieser politische Kurs wurde auch unter der rot-grünen Regierung von Gerhard Schröder weiter vorangetrieben. Damals wurden entscheidende gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen – etwa die Leiharbeit – um tarifliche Arbeitsbedingungen unterlaufen zu können. So sollten Arbeitgeber flexibler sein können und eigentlich sollte Arbeitslosigkeit auf diese Weise eingedämmt werden. Tatsächlich aber haben die politischen und gesetzlichen Rahmenbedingungen nur dazu geführt, dass Sozialstandards in der Arbeitswelt generell abgenommen haben. Tariflose Arbeitsbedingungen sind in der Regel von einer höheren Wochenarbeitszeit geprägt, es gibt außer dem absoluten gesetzlichen Minimum selten eine höhere Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, kein Weihnachts- oder Urlaubsgeld, keine Zuschläge für Nacht-, Schicht- oder Wochenendarbeit. Mehr noch: In tariflosen Unternehmen gibt es zumeist kaum nachvollziehbare Gehaltsstrukturen. Denn der “freie Markt” und das Verhandlungsgeschick des einzelnen entscheidet darüber, wer was verdient.

Tarife schützen vor Benachteiligung

Denn kollektiv Löhne verhandeln – das können rein rechtlich hierzulande nur die Tarifpartner. Keine Betriebs- oder Personalräte und erst Recht keine Mitarbeitergremien, die anstelle solcher Arbeitnehmervertretungen mit einem gesetzlichen Mitbestimmungsrecht, in vielen Unternehmen gegründet werden. Zudem ist der Gender Pay Gap, also die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen, in tariflosen Unternehmen in der Regel größer. Denn Tarife sichern eine unterste Lohngrenze für Berufsgruppen innerhalb eines Betriebs. Sie schützen damit die Schwächeren ab. Das sind leider auch und vor allem die Frauen. Denn sie sind es, die überwiegend Teilzeit arbeiten – nicht zuletzt wegen der mangelnden Vereinbarkeit von Familie und Beruf. In Teilzeit aber, auch das ist gut untersucht, wird man weniger oft befördert und erhält seltener eine Gehaltserhöhung. Erst Recht, wenn es keinen Tarifvertrag gibt, der in der Regel zumindest einen Ausgleich für Inflationsverlust regelmäßig schafft.

Die abnehmende Tarifbindung ist indes nicht nur für Beschäftigte und Gewerkschaften ein Problem. Sie führt generell zu einer größeren Spreizung zwischen Arm und Reich – und dazu, dass der Wohlstand generell abnimmt. Das zeigen auch Daten der Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland. Denn während die Wirtschaft brummt, partizipieren die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wenig davon: Von 1995 bis 2014 sind die Bruttolöhne nach Angaben des Statistischen Bundesamtes um etwa 48 Prozent gestiegen, die Unternehmens-und Vermögenseinkommen aber um etwa 67 Prozent. Die Beschäftigten haben damit ein deutlich kleineres Stück von dem Wohlstand erhalten, den sie in den letzten zwei Jahrzehnten selbst erwirtschaftet haben.

Langfristig tut das auch der Wirtschaft insgesamt nicht gut – denn wenn immer weniger Menschen gutes Geld in der Tasche haben, nimmt auch der Konsum an sich ab. Gute Arbeitgeber zeichnet daher nicht ein geschicktes wirtschaftliches Agieren aus. Sondern vor allem soziale Verantwortung, in dem sie mit den Gewerkschaften als Tarifpartner faire Tarife aushandeln.

Tina Groll

Tina Groll arbeitet hauptberuflich als Redakteurin bei ZEIT ONLINE im Ressort Politik & Wirtschaft. 2008 zeichnete sie das Medium Magazin als eine der “Top 30 Journalisten unter 30 Jahren“ aus. Sie ist Mitglied im Deutschen Presserat sowie als Vorsitzende der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union tätig. Als Autorin von WIR SIND DER WANDEL beschäftigt sie sich mit der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Gesundheitspolitik.