Verdienter Ruhestand oder teure Zukunft?

Zwei Personen sitzen auf einem Felsen und schauen aufs Wasser

Immer mehr Babyboomer nutzen die abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren. Was für Einzelne verlockend ist, könnte das Rentensystem langfristig ins Wanken bringen.

Bisher sind Hunderttausende Babyboomer vorzeitig in den Ruhestand gegangen. Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) haben bis 2023 rund 1,8 Millionen Menschen aus den Boomer-Jahrgängen das Rentenalter erreicht. Das entspricht 44 Prozent ihrer Jährgänge – bei den Neurentner:innen sogar über 55 Prozent. Und der Trend setzt sich fort: Ab 2025 werden laut IW jährlich mindestens eine Million Babyboomer vor der Regelaltersgrenze in Rente gehen. Besonders gefragt ist die „Rente für besonders langjährig Versicherte“, die einen abschlagsfreien Ruhestand zwei Jahre vor der Regelaltersgrenze ermöglicht – vorausgesetzt, man hat 45 Beitragsjahre vorzuweisen.

Diese Regelung führte die Große Koalition 2014 ein, um Menschen mit langen Erwerbsbiografien zu belohnen – vor allem jene in körperlich belastenden Berufen. Wer 45 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt hat, darf zwei Jahre früher ohne Abschläge in Rente. Für viele Babyboomer, die früh ins Berufsleben starteten, ist das eine attraktive Option. Die Regelung gilt als gerecht, weil sie eine frühere Verschnaufpause ermöglicht und Planungssicherheit schafft. Sie wird als Anerkennung für jahrzehntelange Arbeit verstanden, besonders für Beschäftigte mit körperlich anstrengenden Jobs.

Das Rentensystem gerät unter Druck

Irrtümer und Mythen rund ums ArbeitsrechtDoch was für Einzelne reizvoll ist, belastet das Rentensystem. Wer früher aufhört, zahlt weniger ein und bezieht länger Leistungen. Das treibt die Ausgaben der Rentenkasse in die Höhe. Der demografische Wandel verschärft die Lage: Die Babyboomer-Generation bringt das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentenempfängern weiter aus dem Gleichgewicht. Gleichzeitig fehlen dem Arbeitsmarkt durch die Frühverrentung dringend benötigte Fachkräfte – ein Problem, das der Fachkräftemangel noch verstärkt.

Die IW-Studie sieht in der abschlagsfreien Rente nach 45 Jahren ein zentrales Hindernis, um das Renteneintrittsalter anzuheben. Studienautorin Ruth Maria Schüler fordert, die Regelung zu überdenken und mögliche Einschränkungen in der geplanten Rentenkommission zu diskutieren. Auch wirtschaftspolitische Stimmen drängen auf Reformen oder eine Abschaffung. Ihr Argument: Das Rentensystem bleibt nur stabil, wenn die Menschen länger arbeiten – besonders angesichts steigender Lebenserwartung und sinkender Geburtenraten.


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Verdienter Lohn oder teure Hypothek?

Reformvorschläge reichen von einer Anhebung der Altersgrenze für die abschlagsfreie Rente über strengere Kriterien bei der Anrechnung von Versicherungszeiten bis hin zu einer teilweisen Abschlagsregelung trotz 45 Beitragsjahren. Auch eine komplette Abschaffung steht zur Debatte, gilt aber als politisch riskant. Die Diskussion dreht sich auch um Gerechtigkeit: Ist es fair, dass Menschen mit langen Erwerbsbiografien früher in Rente gehen dürfen – auch wenn das System darunter leidet? Oder wäre es gerechter, alle länger arbeiten zu lassen, um die Renten künftiger Generationen zu sichern?

Die Antwort hängt vom Blickwinkel ab. Für viele Babyboomer ist die abschlagsfreie Rente ein verdienter Lohn. Für Jüngere könnte sie zur Hypothek werden, wenn sie später länger arbeiten müssen oder geringere Renten erhalten. Die abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren ist ein Erfolgsmodell – zumindest für jene, die davon profitieren. Doch der demografische Wandel und die finanzielle Lage der Rentenkasse zwingen zur Neubewertung. Die Politik steht vor einem Dilemma: Reformen sind nötig, aber unpopulär. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob der Mut zur Veränderung größer ist als die Angst vor dem Wählerwillen.

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Tina Groll

Tina Groll, SPIEGEL-Bestsellerautorin und Redakteurin bei ZEIT ONLINE im Ressort Politik & Wirtschaft, konzentriert sich als Autorin von WIR SIND DER WANDEL auf Arbeitsmarkt-, Sozial- und Gesundheitspolitik. 2008 zeichnete sie das Medium Magazin als eine der “Top 30 Journalisten unter 30 Jahren” aus. Ferner ist sie Mitglied im Deutschen Presserat.