Drahtseilakt Unternehmenswandel

Verschwommene Menschen auf dem Weg ins Büro

Erfolgreicher Unternehmenswandel ist Verantwortung aller Mitarbeiter – nicht nur der Führungsteams. Er kann also nur dann gelingen, wenn alle mitmachen. Wie das geht, weiß der Strategieexperte Bruno Hartmann.

Bruno Hartmann hat in über 25 Jahren Berufspraxis Unternehmenswandel erlebt. So hat er als Führungskraft den Wandel des Mannesmann-Konzerns zu einem modernen Konzernunternehmen mitgestaltet. Er studierte Wirtschaftsingenieurwesen in Rosenheim und schloss mit dem Master of Business Adminsitration (MBA) an der Clemson University in den USA ab. Heute ist der Strategieexperte in leitender Funktion im Vertrieb eines international führenden Technologie-Konzerns tätig.

Die Ratgeber: Sie waren viele Jahre als Führungskraft in ganz unterschiedlichen Funktionen und Unternehmensbereichen tätig. Was haben Sie in dieser Zeit über erfolgreiche Führung gelernt?

Bruno Hartmann: Führungskräfte müssen ihren Mitarbeitern einen Nutzen bieten. Denn nur wenn die überzeugt sind, ziehen alle auch am gleichen Strang. Dieser Nutzen kann ganz unterschiedlicher Natur sein: ein lohnenswertes Ziel, ein sicherer Arbeitsplatz oder die Möglichkeit, vom Chef etwas zu lernen. Führung ist also eine Wechselwirkung zwischen jemandem, der ein Ziel vorgibt, und jemandem, der sich entscheidet, mitzukommen und dadurch persönlichen Erfolg erwartet. Führung ohne Erfolg für die Mitarbeiter funktioniert langfristig nicht.

Die Ratgeber: Sie fordern, dass gute Führungskräfte ihre Unternehmensführung immer den Gegebenheiten anpassen. Entsteht so aber nicht eine ständige Unruhe im Unternehmen?

Hartmann: Ja, aber eine positive, kreative Unruhe. Unsere Gesellschaft ändert sich ständig. Unsere Kunden ändern sich ständig. Und auch das, was sie als wertvoll erachten und wofür sie bezahlen. Es ist unausweichlich, dass Unternehmen sich danach ausrichten.

Wir müssen uns einfach ständig die Frage stellen, ob das, was wir tun und wie wir es tun, von unseren Kunden heute und morgen noch geschätzt wird. Wenn wir dementsprechend sensibilisiert sind, werden wir unsere Wertschöpfungsmodelle ständig nachjustieren. Viele Veränderungen und Trends kann man kommen sehen und sich darauf einstellen. Wenn wir ständig und frühzeitig kleine Schritte unternehmen, ist Veränderung leichter zu realisieren. Drastische Maßnahmen sind so weniger häufig nötig.

„Viele Unternehmen sind regelrecht ‘kennzahlenparanoid’“

Die Ratgeber: Sie sagen, Unternehmen sollten eine Seele haben. Wie meinen Sie das?

Hartmann: Wenn Mitarbeiter jeden Tag nur in die Firma kommen, um acht Stunden zu arbeiten und dafür Geld zu erhalten, werden Unternehmen bestenfalls Mittelmaß. Kein Mensch aber braucht mittelmäßige Unternehmen.

Kommen Menschen aber zusammen, weil sie gemeinsam etwas erreichen wollen, worauf sie stolz sein können, dann entsteht eine positive Energie, eine Kraft, die die Firma zusammenhält und nach vorne trägt. Es entsteht Identifikation. Und das ist für mich die „Seele“ eines Unternehmens. Letztendlich ist das doch die höchste Qualität von Führung, wenn Mitarbeiter sich so verhalten, als ob es ihre eigene Firma wäre.

Die Ratgeber: Sie plädieren dafür, Unternehmen nicht nur nach Kennzahlen zu führen. Braucht man nicht aber vergleichbare Größen, um Erfolge bzw. Misserfolge messen zu können?

Hartmann: Ich bin nicht dafür, Kennzahlen abzuschaffen. Ganz im Gegenteil. Ich plädiere dafür, Kennzahlen als Indikatoren dort einzusetzen, wo sie Sinn machen – und diese dann im Kontext zu bewerten. Eine Kennzahl für den Lagerbestand sagt beispielsweise nichts aus, solange man nicht auch das aktuelle Umfeld kennt. Vielleicht verlängern sich gerade Lieferzeiten auf dem Beschaffungsmarkt. Oder der Einkauf kann deutlich billiger einkaufen, wenn er größere Mengen bestellt und er Material auf Lager legen kann. Auch die Anforderungen an die Liefererfüllung und die Preispolitik des Vertriebs (der möglicherweise bei schneller Lieferung satte Zuschläge im Markt umsetzen kann) muss man im Auge haben. Eine Kennzahl ohne Kontext hilft also wenig.

Viele Unternehmen haben den Bogen mittlerweile überspannt und sind regelrecht „kennzahlenparanoid“ geworden. Doch nicht alle Aspekte der Unternehmensführung sind messbar. Gerade in Zeiten der Veränderung benötigen wir „analoge Führungskräfte“. Das sind für mich Führungskräfte, die für das jeweilige Geschäft die richtige Balance zwischen Kennzahlen und Prozessen einerseits und den emotionalen, vertrauensbildenden und sinngebenden Aspekten andererseits finden.

„Führungskräfte sprechen selten offen darüber, wovor sie sich wirklich fürchten“

Die Ratgeber: Vor welchen Herausforderungen fürchten sich Ihrer Meinung nach die meisten Führungskräfte, wenn es um Veränderungen geht?

Hartmann: Das ist eine sehr schwierige Frage. Führungskräfte sprechen selten offen darüber, wovor sie sich wirklich fürchten. Sehr viele belastet die Tatsache, den tatsächlichen Ausgang ihrer Richtungsänderungen in der Unternehmensstrategie nicht voraussehen zu können. Veränderung hat auch bei Führungskräften also immer sehr viel mit Ungewissheit und Lernen zu tun.

Weitblickende Chefs wissen heutzutage, dass sie nicht wirklich Unternehmenslenker sind, sondern vielmehr „Netzwerkbeeinflusser“. Denn Unternehmen sind keine Maschinen, sondern Netzwerke von Menschen mit unzähligen nicht prognostizierbaren Wechselwirkungen. Und das macht das Ganze nicht einfacher.

Die Ratgeber: Haben Sie ein Beispiel dafür, welcher Unternehmenswandel aus Ihrer Sicht nicht wirklich geglückt ist?

Hartmann: Da wäre die Übernahme von Chrysler durch Daimler. Aus der Fusion eines deutschen Premium-Anbieters mit einem amerikanischen Unternehmen, das kostengünstige Massenprodukte baute, sollte der Auto-Weltkonzern entstehen. Die Geschäftsmodelle für Premiumanbieter und Kostenführer bedürfen anderer Arbeitsweisen, ja sogar anderer Führungskräfte. Daher konnte das nicht gut gehen – weder aus strategischer, noch aus firmenkultureller Sicht.

Oder das Abenteuer von Jaguar: Kunden zahlen grundsätzlich für Problemlösungen oder für das gute Gefühl bei der Nutzung von Produkten oder Dienstleistungen. Doch als man bei Jaguar anfing, Familienkombis mit Anhängerkupplung zu produzieren, konnte das nicht funktionieren. Als Unternehmen mit einer so starken Marke kann man seinen Kunden keine Premiumpreise für ein „Ford-Mondeo-Fahrgefühl“ abverlangen. Beide Unternehmen haben jedoch noch mal die Kurve bekommen und ihre Positionierung und ihr Geschäftsmodell nachjustiert.

„Angst lähmt Kreativität und Lernen“

Die Ratgeber: Was hat Sie dazu motiviert, ein Buch über den Drahtseilakt eines Unternehmenswandels zu schreiben?

Hartmann: Ich durfte die Auflösung des Mannesmann-Konzerns ebenso miterleben wie viele andere Umstrukturierungen und Firmenübernahmen. Weiterentwicklungen in Unternehmen sind häufig nicht einfach, sei es aufgrund unterschiedlicher, oft gegenläufiger Ziele, oder einer falschen Einschätzung der Situation. Es gleicht einem Balanceakt auf dem Drahtseil, bei dem man vorwärtsgehen und dabei das Seil (stellvertretend für die Realität des Unternehmens) unter seinen Füßen spüren muss. Daher der Titel „Drahtseilakt Unternehmenswandel“.

Die Ratgeber: Gibt es eine besondere Empfehlung, die Sie Führungskräften mit auf dem Weg geben möchten, wenn eine Veränderung im Unternehmen ansteht?

Hartmann: Drei Punkte sind mir besonders wichtig: Macht den Mitarbeitern immer wieder klar, warum und wie die Veränderung dem Unternehmen hilft, wertvoller zu werden und was die Veränderung konkret für den Einzelnen an seinem Arbeitsplatz bedeutet. Seid als Chef möglichst oft präsent, sprecht persönlich mit möglichst vielen Mitarbeitern und versucht die Angst vor der Veränderung zu nehmen. Angst nämlich lähmt Kreativität und Lernen – und beides wird bei Veränderungen dringend benötigt. Und gaukelt Mitarbeitern nichts vor, sondern seid ehrlich.

Die Ratgeber-Redaktion

Unter der Autor:innen-Bezeichnung REDAKTION veröffentlichten DIE RATGEBER von 2010 bis 2020 Gastbeiträge sowie Agenturmeldungen. Im August 2020 gingen die Inhalte von DIE RATGEBER auf die Webseite WIR SIND DER WANDEL über.