In ungewissen Zeiten mit zunehmender Komplexität sind die vielerorts noch immer üblichen Entscheidungshoheiten und Genehmigungsverfahren obsolet. Sie sind fehleranfällig und dauern zu lange.
Ein Gastbeitrag von Anne M. Schüller
Neulich in einem Seminar: Wir sprachen über unzeitgemäße Entscheidungsprozesse, Mitarbeitendengängelei und interne Bürokratie. Bei uns kein Thema, hieß es. Dann jedoch stellte sich raus, dass alle Anschaffungen ab 100 Euro dort die Unterschrift der nächsthöheren Vorgesetzten brauchten. Hierfür war aufwendig ein Formular auszufüllen. Waren diese im Urlaub und türmte sich anschließend bei ihnen die Arbeit, ließen auch die Genehmigungen auf sich warten.
Einerseits wollen Firmen die besten Mitarbeitenden, andererseits werden diese geführt, als ob sie keine eigenen Entscheidungen treffen könnten. Stattdessen sollten sich Vorgesetzte an Steve Jobs orientieren, der bei Apple auf mündige Mitarbeitende setzte: „Es macht keinen Sinn, kluge Köpfe einzustellen und ihnen dann zu sagen, was sie zu tun haben. Wir stellen kluge Köpfe ein, damit sie uns sagen, was wir tun können.“
Neue Zeiten brauchen neue Vorgehensweisen
In den frühen Zeiten der Industrialisierung war es sicherlich sinnvoll, bei anstehenden Entscheidungen Führungskräfte einzuschalten. Da wurden ungelernte Tagelöhnerinnen und Tagelöhner direkt von den Feldern in die Fabriken geholt. Man sagte ihnen, was sie zu tun hatten, und genau das taten sie auch. Vorarbeiterinnen und Vorarbeiter waren dazu da, sie anzutreiben, damit die Schlote rauchten. Planzahlen, strikte Vorgaben und strenge Kontrollen waren die Norm.
In unserer wissensbasierten Hochgeschwindigkeitszukunft hingegen braucht es Kreativität, Originalität und Lust auf Experimente, sozusagen rauchende Köpfe – und eine dezentrale Entscheidungskultur. Viele stupide, schmutzige Jobs, bei denen sich die Menschen kaputt malochten, sind längst automatisiert.
Dennoch sind in vielen tradierten Unternehmen die Genehmigungsverfahren von anno dazumal noch immer gängige Praxis. Kleine und große Entscheidungen werden dort in die nächsthöhere Hierarchiestufe verlagert, also dorthin, wo man weniger von einer konkreten Sache versteht. Das ist, als ob Trainerinnen und Trainer die Elfmeter schießen müssten. Und so erfolgen die meisten Fehlentscheidungen im obersten Stock.
Dabei sind Vorgesetzte nicht selten die am schlechtesten informierten Personen im Unternehmen, da man ihnen die unliebsamen Wahrheiten vorenthält. Die Entscheidungsgrundlagen, mit denen man sie versorgt, sind interessengeleitet – und manchmal auch manipuliert. Insofern ist ihr fachkundiger Überblick lückenhaft und bisweilen getrübt. „Executive Isolation“ nennt man diese bedrohliche Filterblase.
Eine dezentrale Entscheidungskultur etablieren
Strategische Entscheidungen gehören natürlich in den obersten Stock. Sie liegen außerhalb des Wissens oder der Verantwortung der operativen Teams. Solche Entscheidungen teilen fast immer zwei Merkmale: Seltenheit (zum Beispiel internationale Expansionsvorhaben) und einen langfristigen Zeithorizont (zum Beispiel die Wahl der Technologieplattform).
Wenn es hingegen um operative Maßnahmen geht, entscheiden nicht Vorgesetzte, sondern Mitarbeitende oder das Team, in dem ein jeweiliger Vorstoß wirksam wird. Merkmale dieser Art von Entscheidungen sind eine hohe Frequenz (zum Beispiel die Bestellung von Büromaterial) und Dringlichkeit (zum Beispiel Kundennotfälle). Dabei müssen die Führenden akzeptieren, dass nicht ihre eigene Meinung das Maß aller Dinge ist, sondern dass es auch andere, weitaus bessere Wege zum Ziel geben kann.
Gibt es überhaupt gute Gründe für einsame Chefentscheidungen in operativen Belangen? Ja, und zwar Situationen, die blitzschnelles Handeln erfordern und große Auswirkungen haben. In diesen Fällen sollten Vorgesetzte ihren Mitarbeitenden begründen, weshalb es zu solchen Entscheidungen kam. Auch sollten sie die Ausnahme bleiben.
Entscheidungen von Typ 1 und Typ 2
Grundsätzlich lässt sich also zwischen strategischen und operativen Initiativen unterscheiden. Ich nenne sie Entscheidungen von Typ 1 und Typ 2:
Typ-1-Entscheidungen sind strategische Entscheidungen. Diese haben einen langfristigen Zeithorizont mit weitreichenden Konsequenzen, wie etwa Fusionen, ein Firmenumzug oder Investitionen. Hier geht es um die großen Zusammenhänge im Marktgeschehen, um langfristige Perspektiven, juristische Haftungsgründe, Finanzimplikationen usw., die für die Unternehmenssteuerung maßgeblich sind.
Typ-2-Entscheidungen sind Entscheidungen von operativer Bedeutung. Sie werden eigenverantwortlich und selbstorganisiert dort getroffen, wo sie tatsächlich hingehören: Dort, wo die Fachleute sitzen, wo man ganz nah am Kunden ist, und wo man beim kleinsten Hinweis auf Fehler zügig nachsteuern kann. „Kompetenzen und Verantwortung zusammenführen“ nennt man dieses Prinzip.
Fast alle operativen Fragestellungen kann ein Team besser beantworten als Vorgesetzte, die weit weg vom Schuss sind. Wer das Ohr ständig am Markt hat, hat zudem auch ein besseres Gespür dafür, was das nächste große Ding werden könnte.
Die Entscheidungsmatrix: strategisch oder operativ?
Ein erster Schritt auf dem Weg zu einer neuen Entscheidungskultur kann darin bestehen, eine Entscheidungsübersicht für seinen Bereich zu erstellen. Dazu wird zunächst auf einem Board zusammenzutragen, welche Entscheidungen von strategischer und welche von operativer Bedeutung sind. Danach wird festgelegt, wer bei Entscheidungen von Typ 1 involviert ist und diese genehmigt.
Entscheidungen von Typ 2 werden autonom im Team oder von einer Einzelperson getroffen. Allenfalls gibt es eine Informationspflicht „nach oben“ und/oder ein Vetorecht der Führenden. Auch das wird notiert. Anschließend wird die Übersicht veröffentlicht. Das schafft Klarheit, Sicherheit und Transparenz. In einer festgelegten Experimentierphase, die mehrere Monate dauern kann, wird die Brauchbarkeit des Ganzen getestet. Änderungen und Ergänzungen sind nach gemeinsamer Absprache jederzeit möglich. Um den Weg in das eigenverantwortliche, selbstorganisierte Arbeiten tatsächlich zu ebnen, sollten die Informationspflicht und vor allem das Vetorecht nur äußerst selten angewandt werden.
Anne M. Schüller, Keynote-Speakerin, Bestsellerautorin und Businesscoach, gilt als eine der führenden Expertinnen für „Touchpoint Management“ und kundenfokussierte Unternehmenstransformation. Der Gastbeitrag stammt aus dem Buch Die Orbit-Organisation: In 9 Schritten zum Unternehmensmodell für die digitale Zukunft.