Führen im Mangel: Wie Klarheit wächst, wenn alles zu viel wird

Fenster, vollgeklebt mit Post-its

Zeit fehlt, Personal ebenso, der Fokus schwindet – Mangel herrscht überall. Führung endet oft im ständigen Ausgleichen. Doch wer gezielt handelt und genau hinschaut, schafft mehr: Klarheit, Energie und echte Wirkung.

Von allem zu wenig: Zeit, Personal, Raum zum Denken. Führung fühlt sich heute oft wie permanentes Kompensieren an: Entscheidungen treffen ohne alle Fakten, Prioritäten setzen, obwohl alles wichtig erscheint, Energie verteilen, wo keine mehr übrig ist.

Das Paradox: Noch nie waren Teams so engagiert, Themen so relevant, Tools so ausgereift – und dennoch brennt die Organisation auf allen Ebenen. Seit Corona haben sich Meetings verdoppelt. Abstimmungen, Check-ins, Jour fixes füllen die Kalender, aber selten die Köpfe. Zurück bleibt die Erschöpfung einer Arbeitskultur, die sich im Kreis dreht.

Der Teufelskreis des Mangels

Mangel führt zu Aktionismus. Wer zu wenig Ressourcen hat, versucht, das Wenige optimal zu verteilen – mit neuen Tools, Methoden oder Meetings. Doch das verschärft das Problem:

– Je knapper die Zeit, desto mehr wird organisiert, koordiniert, kontrolliert.
– Je höher der Druck, desto geringer die Klarheit.
– Je größer die Unsicherheit, desto lauter die Rufe nach Effizienz.

Führung wird zum Jonglierakt: Bälle in der Luft halten, ohne zu wissen, warum man sie wirft. Teams reagieren, statt zu gestalten. Entscheidungen wandern nach oben, Verantwortung verpufft. Irgendwann verliert man den Blick fürs eigentliche Problem.

Der blinde Fleck

Irrtümer und Mythen rund ums ArbeitsrechtViele Organisationen bekämpfen Symptome, nicht Ursachen. Sie optimieren Prozesse, digitalisieren Abläufe, führen Feedback-Tools ein – und wundern sich, warum nichts besser wird. Die meisten Veränderungen bleiben oberflächlich, weil sie den Kern des Problems nicht berühren: die Unklarheit darüber, wo Wert entsteht und wo Energie verloren geht.

Das ist der blinde Fleck moderner Führung: Wir managen, was sichtbar ist – Termine, Aufgaben, KPIs – und übersehen, was unsichtbar wirkt: Sinn, Fokus, Priorität. Solange unklar bleibt, was wirklich zählt, bleibt jede Effizienzmaßnahme Flickwerk.

Diagnose statt Dauerfeuer

Führung im Mangel verlangt eine andere Haltung: nicht mehr tun, sondern besser verstehen. Wer ständig im Feuer steht, muss die Brandherde erkennen – nicht die Flammen bekämpfen. Der Wendepunkt kommt, wenn Führungsteams die Perspektive wechseln: Weg vom Reflex „Wie schaffen wir noch mehr?“ hin zur Frage „Was braucht es wirklich, damit Wirkung entsteht?“

Dieser Wechsel klingt banal, ist aber radikal. Er verlangt, innezuhalten – in einer Kultur, die Stillstand mit Schwäche verwechselt.

1. Schritt: Muster sichtbar machen
Der erste Schritt: das System durchleuchte, bevor man es verändert. Woher kommt der Druck? Welche Entscheidungen werden ständig vertagt? Wo entsteht Reibung?Oft zeigt sich: Es fehlt nicht an Menschen, sondern an klaren Schnittstellen. Nicht an Zeit, sondern an Prioritäten. Nicht an Engagement, sondern an gemeinsamer Richtung.Ein klarer Blick hilft, Komplexität zu sortieren. Eine Führungsdiagnose analysiert systematisch, wie Energie im Team fließt – oder verloren geht:- Wo entstehen Engpässe durch unklare Zuständigkeiten?

– Welche Routinen schaffen Transparenz, welche nur Beschäftigung?
– Welche Meetings erzeugen Wert, welche verhindern hin?

Solche Analysen sind kein Selbstzweck. Sie zeigen, wo Struktur, Haltung oder Kultur korrigiert werden müssen.

2. Schritt: Priorität statt Präsenz
Viele Führungskräfte glauben, sie müssen überall präsent sein. Das Gegenteil ist richtig: Wirksamkeit entsteht, wenn man entscheidet, wo man nicht führt. In Phasen des Mangels ist Fokus die härteste Währung. Wer alles gleichzeitig steuert, steuert nichts.Deshalb braucht es Klarheit darüber, welche Themen wirklich strategisch sind – und welche delegiert, verschoben oder gestrichen werden müssen. Führungsteams sollten sich regelmäßig fragen:- Was sind die drei Entscheidungen, die nur wir treffen können?

– Welche Aufgaben tun wir aus Gewohnheit, nicht aus Notwendigkeit?
– Wo lenken wir Aufmerksamkeit hin, wo müsste sie weg?

So entsteht Handlungsfreiheit – das Gefühl, nicht nur zu reagieren, sondern zu gestalten.


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3. Schritt: Räume für Qualität schaffen
In Hochdrucksystemen wird Zeit zur Währung, die niemand mehr besitzt. Doch Qualität braucht Räume – für Denken, Austausch, Reflexion. Das heißt nicht, mehr Meetings zu machen, sondern die richtigen: weniger, klarer, mutiger.

– Ein gutes Meeting führt zu Entscheidungen – nicht nur zu Folien.- Ein gutes Team hält Pausen aus, statt sie zu füllen.
– Eine gute Führung lässt Stille zu – weil darin oft das Wichtige entsteht.

Wer solche Räume schafft, verändert nicht nur die Effizienz, sondern die Kultur: vom Abarbeiten zum Verstehen.

4. Schritt: Weglassen als Führungsinstrument
Die produktivste Frage in Zeiten des Mangels lautet: Was lassen wir weg? Weglassen ist keine Schwäche, sondern eine Führungsleistung. Jede Organisation produziert Routinen, die einmal sinnvoll waren – und heute Energie binden. Alte Reportingstrukturen, überladene Kommunikationskanäle, endlose Schleifen. Wer sie abschafft, schafft Freiraum – für Neues, für Denken, für Wirksamkeit.Weglassen heißt, mutig zu entscheiden, dass nicht alles gleichzeitig wichtig sein kann. Es heißt, wieder zwischen dringend und bedeutsam zu unterscheiden.

5. Schritt: Energie steuern, nicht nur Arbeit
Gute Führung misst sich nicht daran, wie viel gearbeitet wird, sondern wie viel Energie im System bleibt. Energie entsteht durch Sinn, Selbstwirksamkeit und Vertrauen. Sie verpufft durch Kontrolle, Mikromanagement und Dauerstress.Führungskräfte, die das verstehen, führen ihre Teams anders: weniger über To-do-Listen, mehr über Kontext. Sie fragen nicht: „Wie weit seid ihr?“ Sondern: „Was hindert euch?“ Das verändert Gespräche. Es verschiebt Verantwortung nach unten, Klarheit nach oben – und sorgt dafür, dass Teams nicht nur funktionieren, sondern wirken.

Die neue Führungsaufgabe: Orientierung im Unfertigen

Führung im Mangel ist keine Schwäche, sondern das neue Normal. Sie verlangt eine neue Kompetenz: Orientierung geben, wenn nichts sicher ist. Widersprüche aushalten, ohne sie sofort zu lösen. Führen, obwohl die Landkarte unvollständig ist. Die Energie der Teams schützen, gerade wenn alles drängt.

Das ist keine romantische Idee, sondern eine strategische Notwendigkeit. Organisationen, die im Mangel nur beschleunigen, verbrennen ihre Zukunft. Organisationen, die im Mangel verstehen, wo sie stehen, gewinnen Gestaltungsspielraum zurück.

Führung heißt heute nicht, mehr Ressourcen zu fordern, sondern mit Klarheit, Mut und analytischem Blick das Beste aus den vorhandenen zu machen. Die Frage ist nicht: Wie kommen wir durch den Mangel? Sondern: Was lernen wir daraus über das, was wirklich zählt?

Wenn Führung gelingt, entsteht kein Defizit – sondern ein neues Gleichgewicht:

– Weniger Aktion, mehr Wirkung.
– Weniger Lärm, mehr Richtung.
– Weniger Jonglage, mehr Gestaltung.

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Sabine Hockling

Die Chefredakteurin Sabine Hockling hat WIR SIND DER WANDEL ins Leben gerufen. Die Wirtschaftsjournalistin und SPIEGEL-Bestsellerautorin beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit den Veränderungen unserer Arbeitswelt. Als Autorin, Herausgeberin und Ghostwriterin veröffentlicht sie regelmäßig Sachbücher – seit 2023 in dem von ihr gegründeten DIE RATGEBER VERLAG.