Kräfte im Unternehmen, die den Fortschritt blockieren. Tabus und unantastbare wahre Gründe, weshalb nichts vorangeht. Überholte Mindsets, die den notwendigen Wandel behindern. Wie sich all das vermeiden lässt, weiß Anne M. Schüller.
Ein Gastbeitrag von Anne M. Schüller
Fast jeder kennt es, meist aus dem eigenen Unternehmen: ein gängiges Top-down-Organigramm. Es ist derart Standard, dass man es, scheinbar alternativlos, in klassischen Organisationen beinahe überall findet: Der Chef thront einsam ganz oben, darunter, in Kästchen eingesperrt, seine brave Gefolgschaft. Mitarbeitende sowie Kundinnen und Kunden kommen nicht darin vor. Die Oberen beschäftigen sich rein mit sich selbst. Ein Bild, das mehr als tausend beteuernde Worte sagt.
Denn noch immer machen viele Leitende ihre Bedeutung daran fest, wie viele Beschäftigte sie „unter sich“ haben, wie viele Mitarbeitende sie „steuern“ und wie viele an sie berichten. Selbst Vorgänge von geringer operativer Bedeutung und „Kleingeld“-Investitionen müssen „von oben“ genehmigt und „abgesegnet“ werden. Das Befolgen festgeschriebener Vorgaben und ein strikt gefordertes, vielfach sogar bonifiziertes Erfüllen von Planzielen aus dem Vorjahr sind Usus. Ganze Abteilungen sind dazu da, andere zu kontrollieren.
Adipöse Administrationsapparate verhindern Sprung in die Zukunft
Solche Unternehmen sind ein bürokratischer Alptraum. Wie unförmiges Gepäck hindert ihr adipöser Administrationsapparat sie daran, den Sprung in die Zukunft zu schaffen. Denn klassische Manager neigen zum Hinzufügen und Mehren, nicht zum Ausmerzen und Reduzieren. Warum das so ist? Das Mehr ist ein Zeichen von Geltung und Macht. Daher werden Beschäftigte mit immer mehr Regeln, Reportings und Kennzahlenfüttern beschäftigt. Statt ihnen den Rücken freizuhalten für das, was wirklich zählt: die Arbeit am Kunden. Denn Kunden bringen das Geld in die Kasse. Intern produziert man nur Kosten.
Nach einem meiner Vorträge erwarb ein Bereichsleiter direkt bei mir einige meiner Bücher für seine Abteilung. Kurz darauf schaltete sich eine Sachbearbeiterin des Unternehmens ein: So laufe das bei ihnen nicht! Der Bereichsleiter habe nicht das Recht, eigenmächtig einzukaufen, denn Bestellungen müssen generell über den Zentraleinkauf getätigt werden. Es folgte ein stundenlanger E-Mail-Verkehr, um den Kauf „der guten Ordnung halber“ mithilfe der vorgeschriebenen Formulare „offiziell“ zu machen. Erschreckend, wie riesig in einigen Firmen die blinden Flecken sind.
Keiner sägt an dem Ast, auf dem er sitzt
Je größer eine Organisation, desto mehr geht es rein um das Bedienen des Apparats: In Hauptverwaltungen wird ausschließlich verwaltet. Ausufernde Vorschriftenberge untermauern die Wichtigkeit einer Abteilung und dienen der Bedeutungserhöhung. Produkte von gestern werden am Leben erhalten und Projekte aufgebauscht, um Ansehen und Einfluss zu stärken. Durch eine aufgeblähte Mess- und Steuerungsbürokratie sorgen einzelne Bereiche für ihre Daseinsberechtigung.
Menschlich und logisch: Wer etwas aufgebaut hat, verteidigt eisern die eigene Stellung, um sie zu bewahren. Privilegien, Status und Macht, dafür haben amtierende Führungskräfte lange gekämpft. Das freiwillig wieder herzugeben, ist verdammt schwer. Keiner sägt an dem Ast, auf dem er sitzt, und demontiert sich freiwillig selbst. Doch Tabus bringen einen nicht weiter, ganz im Gegenteil, so nämlich verspielt man die Zukunft des Unternehmens.
Verbale Aufgeschlossenheit bei anhaltender Verhaltensstarre
Und auch wenn mittlerweile transformational geführt wird und agile Methoden genutzt werden, passiert das oft nur punktuell. Beschränkt sich das Vorgehen nur auf Mitarbeitende, die Arbeitsplatzgestaltung und neue Arbeitstools, inszenieren sich viele zwar als veränderungsfreudig und demonstrieren wortreich, wie wichtig Transformation sei. Das Wesentliche aber bleibt unangetastet.
So heißt es seit Jahren, dass Silo-Strukturen aus der Zeit gefallen sind und nicht mehr funktionieren. Doch (fast) niemand reißt die eigenen Silos konsequent ein. Man dreht zwar an kleinen Schräubchen, nicht aber am großen Rad. Und eine Menge bleibt im „Eigentlich müsste man … “ stecken. Um die eigene Haut zu retten, schützt man den Status quo und versucht so, eine Zukunft aufzuhalten, die sich nicht aufhalten lässt. Ich nenne das: Verbale Aufgeschlossenheit bei anhaltender Verhaltensstarre.
Lippenbekenntnisse und Augenwischerei bringen nichts und niemanden weiter
Die erste Erkenntnis vieler Silo-Vorsteher müsste demnach sein: Die wahren Verhinderer, das sind wir selbst. Es bringt rein gar nichts, wenn ein selbstorganisiertes Team im Schnellsprint ein Kundenprojekt bis zur Umsetzungsreife entwickelt, dieses Projekt dann aber wochenlang in einem klassischen Top-Level-Gremium hängenbleibt. Da, wo es keinen grundlegenden Erneuerungswillen gibt, kommen die meisten guten Ideen über das Stadium des „Zettelchenklebens“ nicht hinaus.
Und da, wo sich Pilotteams neu ausrichten und autonom arbeiten dürfen, verpufft deren Transformationsenergie, sobald sie auf ein verkrustetes Grundgerüst treffen. Manche überpinseln das Bestehende auch nur mit hipp klingenden neuen Namen, um sich einen modernen Anstrich zu geben. Vorgehen und Inhalte aber bleiben die alten. Solch eine Augenwischerei bringt nichts und niemanden weiter. So lange überholte organisationale Grundstrukturen nicht angefasst werden, wird ein Großteil der Agilisierungstools wirkungslos bleiben.
Gewohntes radikal infrage stellen
Unternehmen, die an die Honigtöpfe der Zukunft wollen, eifern nicht dem Vergangenen nach. Sie versuchen auch nicht, alte Technologien aufzupeppen. Sie überspringen sie einfach. Herkömmliche Branchengesetze sind ihnen komplett egal. Gewohntes wird radikal infrage gestellt. Unbekümmert und forsch kreieren sie die Dinge anders und neu. Gegen das smarte, schnelle und mutige Vorgehen der modernen Player im Markt haben die Old-School-Apparatschiks mit ihrer Absicherungsmentalität, ihren langatmigen Prozessen und behäbigen Entscheidungsrunden nicht den Hauch einer Chance.
Passende organisationale Strukturen machen bahnbrechend neue Geschäftsideen überhaupt erst möglich. Für die „Future Economy“, in der sich menschliche und künstliche Intelligenzen miteinander verbinden, wird also zunächst ein „Future Mindset“ und dann eine „Future Organisation“ gebraucht. Dies verlangt von einem traditionellen Management, alle derzeitigen Strategien und die damit verbundenen Verfahrensweisen auf den Prüfstand zu stellen – und dabei insbesondere auch die „heiligen Kühe“ zu thematisieren.
Ausbremseritis jeder Couleur in Angriff zu nehmen
Eine gute Methode, um Ausbremseritis jeder Couleur in Angriff zu nehmen ist das Workshop-Format „Elephant in the Room“. Warum Elefant? Weil es um etwas wirklich Großes geht: ein offensichtliches Problem, das dick und breit im Raum steht und den Zugang zu einer besseren Zukunft versperrt. Es ist unübersehbar, doch alle tun so, als wäre es gar nicht da. Im Mittelpunkt eines solchen Workshops steht folgende Frage: Wenn es um unsere unternehmerische Zukunft geht, was sind die wahren Hemmnisse und Blockaden, über die zwar offiziell niemand spricht, worüber wir aber unbedingt reden sollten?
Initiiert wird dieser Prozess von jemandem aus dem Top-Management. Wichtig ist dabei, im Workshop mit einer qualifizierten Moderation zu arbeiten. Wie das im Einzelnen funktioniert, habe ich in meinem aktuellen Buch Bahn frei für Übermorgengestalter ausführlich beschrieben. Ein Etappenziel ist dabei erreicht, wenn sich alle trauen, Dinge, die sie für eine „heilige Kuh“ halten, offen anzusprechen – was stets positiv aufgenommen werden sollte, vor allem von den „Haltern der Kühe“. Danach sollte mindestens eine Kuh bei den Hörner gepackt und tatsächlich vom Eis geholt werden. Maximalziel ist, dass am Ende keine „heiligen Kühe“ mehr existieren und so Blockaden fortan gar nicht mehr erst entstehen können.
Anne M. Schüller, Keynote-Speakerin, Bestsellerautorin und Businesscoach, gilt als eine der führenden Expertinnen für „Touchpoint Management“ und kundenfokussierte Unternehmenstransformation. Der Gastbeitrag stammt aus dem Buch Bahn frei für Übermorgengestalter.