Fast jede und jeder dritte Angestellte wurde schon einmal diskriminiert oder gemobbt. Dennoch schrillen bei Arbeitgebern nicht die Alarmglocken. Ein böser Fehler, wie eine aktuelle Studie zeigt.
Jede und jeder dritte Beschäftigte (33 Prozent) hat schon einmal Diskriminierung am Arbeitsplatz erlebt. Fast ebenso viele (30 Prozent) wurden laut eigener Aussage schon Opfer von Mobbing. Unter den männlichen Befragten (31 Prozent) ist der Anteil derjenigen, die Diskriminierung erlebt haben, kleiner als bei den weiblichen (36 Prozent). Auch Mobbing haben Männer (29 Prozent) seltener am Arbeitsplatz erlebt als ihre Kolleginnen (34 Prozent). Dabei ist besonders beunruhigend: Gemeldet hat diese Vorgänge nur knapp jede beziehungsweise jeder zweite Angestellte (49 Prozent). Frauen (46 Prozent) vertrauten sich dabei noch seltener Vorgesetzten oder den entsprechenden Stellen im Unternehmen an als Männer (54 Prozent).
Welche Erfahrungen Beschäftigte mit Mobbing und Diskriminierung machen, hängt dabei stark von der Unternehmenskultur und dem Führungsstil ab. Beschäftigte, die ihr Unternehmen und dessen Führungskräfte beispielsweise als divers und inklusiv bewerten, haben seltener Erfahrungen mit Diskriminierung (29 Prozent) gemacht als Angestellte in Unternehmen mit einem wenig oder gar nicht diversen Führungsteam (36 Prozent).
Kluft zwischen Führungsetage und Mitarbeitenden
Auch bewerten Führungskräfte die Anstrengungen ihres Unternehmens in punkto Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion deutlich positiver als Beschäftigte. So sagen fast zwei Drittel der Führungskräfte (63 Prozent), dass in ihrem Unternehmen eine Kultur des Vertrauens und der Transparenz herrscht. Bei den Angestellten sind hingegen nur 44 Prozent dieser Meinung – ein Unterschied von 19 Prozentpunkten. Und auch beim Grad der Geschlechtervielfalt (16 Prozentpunkte Unterschied) und bei der Sorge um das Wohlergehen der Beschäftigten (20 Prozentpunkte Unterschied) klaffen die Bewertungen deutlich auseinander.
Verschließen Vorgesetzte die Augen vor der Realität? Oder wie sind diese unterschiedlichen Wahrnehmungen vom Management auf der einen und Beschäftigten auf der anderen Seite zu erklären? „Dass die Einschätzungen der unterschiedlichen Level der Mitarbeitenden hierzulande und in Europa zum Teil so deutlich und in so vielen Kategorien auseinanderklaffen, wenn es um Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion geht, spricht ganz klar für eine Kluft zwischen Führungsetage und Mitarbeitenden. Wenn im Schnitt fast jede und jeder dritte Angestellte schon einmal diskriminiert oder gemobbt wurde, müssen bei den Arbeitgebern die Alarmglocken schrillen und umgehend Maßnahmen – im Zweifel auch durch externe Experten und Angebote, aber vor allem durch Veränderungen in der Zusammensetzung des Führungsteams – ergriffen werden, um einen wirklichen Kulturwandel im Unternehmen voranzutreiben, der alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter miteinbezieht“, so Ev Bangemann, Managing Partner bei EY.
Mehr als ein Viertel der Angestellten sind aktuell auf der Suche nach einer neuen Stelle
Die aktuellen Forschungsergebnisse belegen klar die unternehmerischen und firmenkulturellen Vorteile für alle Mitarbeitenden, wenn sich die Vielfalt der Belegschaft und der Kundinnen und Kunden in der Diversität von Führungsteams widerspiegelt: „Eine bessere Repräsentation trägt dazu bei, dass unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse berücksichtigt werden und damit zu einer stärkeren Bindung von Mitarbeitern und Kunden führt”, so Bangemann. Die Zeiten, in denen Frauenquoten als Feigenblatt für Vorstände dienten, seien definitiv vorbei. „Vor allem internationale Konzerne haben den Mehrwert, den diverse Teams – gerade in der Führungsebene – ihrem Unternehmen bringen, längst erkannt. Geht es um Entscheidungsprozesse, Marktverständnis und -entwicklung sowie die Attraktivität des Unternehmens für neue Talente sind divers und inklusiv agierende Unternehmen klar im Vorteil“, ist Bangemann überzeugt.
Zumal nur etwas mehr als ein Drittel der Angestellten (36 Prozent) sagt, dass ihr Feedback zu Veränderungen am Arbeitsplatz vom Management auch in einem ausreichenden Umfang umgesetzt wird. Passiert dies allerdings nicht, hat dies deutliche Folgen für die Motivation der Belegschaft: So ist mehr als ein Viertel der Angestellten (27 Prozent), die Diskriminierung am Arbeitsplatz erlebt haben, aktuell auf der Suche nach einer neuen Stelle. Bei denjenigen, die ein solches Verhalten nicht erlebt haben, sind es dagegen nur vier Prozent – die Bereitschaft zum Jobwechsel ist bei Angestellten, die sich diskriminiert fühlen, also deutlich erhöht. „Gerade in Zeiten, in denen die Wechselwilligkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowieso schon auf einem Rekordhoch ist und qualifizierte Fachkräfte gefragt sind wie nie, sollte dies den Verantwortlichen zu denken geben. Zumal es sich in Branchen herumspricht, wenn es bei einem Arbeitgeber in punkto Unternehmenskultur hapert – was das Recruiting neuer Talente wiederum erschwert“, ist Bangemann sicher.
Nur drei von vier Unternehmen nutzen Blind-Lebensläufe
Die Folgen einer schlechten Unternehmenskultur sind spür- sowie messbar – und wirken sich auch auf die Arbeitsqualität aus: Weniger als die Hälfte der befragten Beschäftigten (48 Prozent) bewertet die eigene Produktivität am Arbeitsplatz aktuell als „hoch“. Ähnlich sieht es bei der gefühlten Arbeitsplatzsicherheit (45 Prozent) und der Zufriedenheit am Arbeitsplatz (40 Prozent) aus. Nur ein Drittel von ihnen (33 Prozent) sind am Arbeitsplatz in hohem Maße sie selbst und authentisch. Allerdings gibt es hierbei deutliche Unterschiede: So bewertet mehr als die Hälfte der Angestellten (55 Prozent) in divers geführten Teams die eigene Zufriedenheit mit „gut“ bis „sehr gut“. Bei Beschäftigten, die die Aufstellung ihrer Führungskräfte dagegen als nicht divers bezeichnen, ist es dagegen weniger als jede und jeder Dritte (31 Prozent). Ein ähnliches Bild zeigt sich, wenn es um die Produktivität geht. Auch hier bewerten die Befragten divers geführter Teams (54 Prozent) diesen Wert deutlich höher als Angestellte, deren Vorgesetztenteams keinen vielfältigen oder diversen Hintergrund haben (40 Prozent).
An den Einstellungspraktiken der Unternehmen lässt sich erkennen, dass die Zeichen der Zeit immer häufiger erkannt werden – auch wenn es hier noch Nachholbedarf gibt, wenn es um Vielfalt und Inklusion geht. So sagt zwar knapp die Hälfte der Managerinnen und Manager (49 Prozent), dass sie Mitarbeitende einzig und allein aufgrund ihrer Qualifikation einstellen. So genannte Blind-Lebensläufe, in denen auf persönliche Daten wie Namen, Geschlecht oder Alter verzichtet wird, nutzt allerdings nur etwa eines von vier Unternehmen (28 Prozent).
Angestellte akzeptieren mangelnde Unternehmenskultur nicht
Nur jedes dritte Unternehmen (33 Prozent) schult Personalverantwortliche zudem zu den Themen Diversity, Equity und Inklusion. Größte Herausforderung aus Sicht des Managements ist hierbei das Geld: Mehr als jede vierte Führungskraft (26 Prozent) gibt an, dass Haushalszwänge das Haupthindernis in diesem Bereich sind. „Auf inklusive Maßnahmen zu verzichten, weil sie auf den ersten Blick nicht ins Budget passen, kann sich mittel- und vor allem langfristig rächen. Die Zahlen zeigen: Angestellte akzeptieren eine mangelnde Unternehmenskultur nicht – und quittieren diese entweder mit mangelndem Einsatz und Produktivität oder gar mit der Kündigung. Beide Fälle kommen Unternehmen teurer zu stehen als Maßnahmen um die Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion zu verbessern“, weiß Bangemann.
Für die Ergebnisse der europaweiten Studie, durchgeführt von EY, wurden 1.800 Beschäftigte in neun europäischen Ländern befragt, davon 200 in Deutschland. Zur Hälfte setzten sich die Befragten aus leitenden Angestellten, zur Hälfte aus Beschäftigten zusammen.