Das Konzept „Holacracy“ polarisiert. Befürworter sehen darin ein Allheilmittel. Gegner verteufeln die Theorie. Unstrittig ist, dass Holacracy anspruchsvoll ist.
Seit einiger Zeit wabert der Begriff Holacracy durch Managementetagen: Eine Organisationstheorie, die auf traditionelle Hierarchien verzichtet und stattdessen auf autonome Teams und Mitarbeiter setzt, die mit eigenen Verantwortlichkeiten ausgestattet nach klaren Spielregeln agieren. Die so ins Unternehmen einziehende Transparenz in Arbeitsprozesse und Teams soll zu effektiveren Steuerungs- und Entscheidungsprozessen führen. Was kompliziert klingt, ist eigentlich simpel: Die Eigenverantwortung von Mitarbeitern soll gestärkt werden.
Holacracy setzt auf selbstorganisierende Kreise (Teams). Jeder Kreis ist dabei einem über ihm liegenden Kreis zugeordnet. Die Kommunikation untereinander erfolgt dabei durch eine Person, die mit beiden Kreisen verbunden ist – damit ein bidirektionaler Informationsfluss und schnelle Feedback-Schleifen gegeben sind. Und weil jeder Kreis sein eigenes Ziel verfolgt, steuert er sich zu dessen erreichen selbst.
Steuerung über Rollen
Diese Steuerung erfolgt dabei über Rollen. Das heißt, Mitarbeiter haben mindestens eine Rolle, können aber auch gleichzeitig mehrere Rollen in einem Kreis oder verschiedenen Kreisen erfüllen. Definiert und organisiert werden die Rollen von dem jeweiligen Kreis, der auch eine Anpassung vornimmt – sollten sich zum Beispiel die Anforderungen des Unternehmens verändern.
Für die Zusammenarbeit und Kommunikation gibt es verbindliche Regeln. So definiert Holacracy drei Arten von Meetings: Taktische Meetings, in denen sich Kreis-Mitglieder gegenseitig auf den neuesten Stand bringen, aktuelle Projekte überprüfen, Differenzen klären sowie neue Projekte starten und laufende neu priorisieren. Governance Meetings, in denen es um die Kreisstruktur, das Schaffen von neuen Rollen sowie das Verändern von bestehenden geht. Strategische Meetings, in denen es um Richtungen für die Zielerreichung geht.
Damit die Kommunikation dabei sachlich erfolgt und mit einer konstruktiven Lösung endet – persönliche Interessen sollen so außen vor bleiben – erfolgt der Besprechungsprozess nach einer von Holacracy definierten Struktur.
Konsens muss nur bei fundamentalen Einwänden herrschen
Eine weitere Grundlage des Holacracy-Konzepts ist die Transparenz und Verbindlichkeit. Deshalb sind Kreis-Mitglieder auch zur Information und Verbindlichkeit verpflichtet. Einerseits sollen so blockierte Projekte vermieden werden. Andererseits stoßen Verbesserungsmöglichkeiten der anderen notwendige Entwicklungen an. Konsens muss dabei nur herrschen, wenn fundamentale Einwände vorliegen. Ansonsten werden Entscheidungen getroffen – mit dem Wissen, sie notfalls später wieder zu ändern, sollten sie nicht funktionieren. Denn nach Holacracy kommt es darauf an, aktuell eine Entscheidung zu treffen und nicht Ewigkeiten nach der perfekten Lösung zu suchen.
Aber ist es wirklich so, dass sich Spannungen und Konflikte reduzieren, wenn Transparenz und Flexibilität einziehen? Wenn Entscheidungen dort gefällt werden, wo die Arbeit erbracht wird? Das verbindliche Kommunikationsregeln und Meetingprozesse lähmende Koordinationsaufwände reduzieren?
Das Internetunternehmen Liip beispielsweise musste seine Organisationsstruktur grundlegend verändern, um Wachstum und Wandel meistern zu können. Diese dezentrale und selbstorganisierte Struktur förderte allerdings ein Problem zu Tage: Neuen Mitarbeitern diese informell entstandene Struktur zu erklären. Um zu einer formalisierten Struktur zu finden, führten die Freiburger im Herbst 2015 Holacracy ein.
Managementkonzepte für Veränderungen und Selbstoptimierung
Und auch Claudia Dietze, Geschäftsführerin des Hamburger Software-Entwicklers freiheit.com, begründet die Einführung von Holacracy damit, dass sich die Welt mit stetig steigender Geschwindigkeit verändert. Diese Fortschritte in Technologie und Software zwingen Unternehmen, sich permanent zu verändern. Da braucht es neue Managementkonzepte, die eine kontinuierliche Anpassung an Veränderungen und eine Selbstoptimierung ermöglichen.
Das Industrieunternehmen Oerlikon aus der Schweiz lässt seit 2015 bisher nur ein kleines Projektteam aus sechs Personen nach dem Holacracy-Prinzip arbeiten. Nach eigenen Angaben mit Erfolg: Projekte sind schneller und erfolgreicher umzusetzen, Mitarbeiter aufgrund der Autonomie zufriedener.
Doch stellt sich der Erfolg auch ein, wenn große Unternehmen auf diese grundlegende Umstrukturierung ihrer Unternehmensorganisation setzen? Was bei kleinen Projektteams und Start-ups funktioniert, muss nicht zwangsläufig auf die gesamte Organisation und Konzerne übertragbar sein.
Holacracy stößt an Grenzen
Zwei Beispiele, dass Holacracy auch an Grenzen stößt, sind die amerikanischen Unternehmen Medium und Zappos. Während die Publikationsplattform Medium das Experiment als gescheitert ansieht und nicht fortführen wird, geht der Online-Schuhhändler Zappos einen anderen Weg. Nachdem Zappos-Mitarbeiter sich gegen Holacracy aussprachen, schaffte der CEO Tony Hsieh nicht etwa das Konzept ab, sondern Fakten: Er forderte seine Mitarbeiter auf, sich für Holacracy und so auch für Zappos auszusprechen oder aber mit einer Abfindung das Unternehmen zu verlassen. 14 Prozent der Mitarbeiter nahmen den goldenen Handschlag an. Gemunkelt wird, dass mehr Angestellte das Angebot angenommen hätten, aufgrund fehlender Alternativen allerdings blieben.
Dabei sind die Vorteile für den amerikanischen Unternehmer Brian J. Robertson, Erfinder von Holacracy, offenkundig. Der schnelle Informationsfluss beispielsweise fördert notwendige Veränderungsprozesse und sorgt so für eine agile Unternehmensentwicklung. Diese Beweglichkeit hat zudem den positiven Effekt, dass Experimente beispielsweise bedenkenlos erfolgen können. Denn bei einem möglichen Scheitern können Organisationen schnell gegensteuern. Gefördert wird die dafür notwendige Kreativität zum einen von der Freiheit, die Holacracy Mitarbeitern einräumt. Zum anderen von der sachlichen Zusammenarbeit, denn Konflikte und Spannungen werden stets durch die Meetings aufgefangen.
Holacracy braucht Zeit und Verständnis
Aber auch wenn Führungskräfte sich ein flexibleres und organischeres Unternehmen und Mitarbeiter mehr Mitspracherecht wünschen, tun sich viele mit der Arbeitsweise nach dem Holacracy-Prinzip bisweilen schwer. Wer beispielsweise lange in einer hierarchischen Struktur ohne Entscheidungskompetenz tätig war, wird sich enorm umstellen müssen. Das braucht Zeit und Verständnis auf allen Seiten. Bei Medium beispielsweise war die Arbeit nach dem Holacracy-Modell in Bewerbungsgesprächen für viele Bewerber ein K.O.-Kriterium.
Während Befürworter der Holacracy-Methode vor allem für große Organisationen viele Vorteile sehen – zum Beispiel das schnelle, reibungslose und nachhaltige Lösen von Problemen, die Transparenz oder auch die Handlungsspielräume, sehen Kritiker wie Markus Brinsa Holacracy deutlich nüchterner. So bemerkt der CEO der internationalen Strategieberatung SEIKOURI Inc. in seinem Beitrag Holacracy: Die Hierarchie der Kreise: „Die Holacracy-Systematik legt sehr viel Wert auf Konsens und demokratische Entscheidungsfindung, auf jedermanns Meinung. Zugleich ist sie aber ausdrücklich stark hierarchisch. Liest man die einführenden Artikel über Holacracy und die Holacracy Constitution 4.0, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, Holacracy sei Hierarchie aus Steroiden. Hierarchien werden weit detaillierter beschrieben, als in jeder herkömmlichen Organisationsstruktur.“ Und weiter, „auch wenn jeder Kreis noch so demokratisch ist, so arbeitet er dennoch innerhalb einer vertikalen Hierarchie und muss sich nach oben orientieren, um Instruktionen über seinen Zweck zu erhalten.“
Veränderung von gewohnten Organisationen und Funktionsweisen stellt eine große Herausforderung dar
Umgesetzt werden kann Holacracy im Grunde von jedem Unternehmen, denn das Grundlagenwerk ist im Internet frei verfügbar. Für die Software GlassFrog, in der Verantwortlichkeiten und Regeln hinterlegt sind, braucht es eine Lizenz. Auch ist es ratsam, sich bei der Implementierung professionelle Unterstützung von Beratern zu suchen, die sich auf Holacracy spezialisiert haben. Gerade zu Beginn stellen die Definitionen von Kreisen und Rollen, der Übergang von alten zu neuen Strukturen sowie die Kommunikation für Führungskräfte und Mitarbeiter eine große Herausforderung dar. Der Einführungsprozess nimmt dabei je nach Unternehmensgröße einen Zeitraum von sechs bis 12 Monaten ein.
Der Schweizer Softwareentwickler afca hat sich für Holacracy entschieden, um einen hohen Grad an Flexibilität, Schnelligkeit und Selbstorganisation zu erreichen. Merkt aber auch an, dass die Veränderung von gewohnten Organisationen und Funktionsweisen eine große Herausforderung darstellt. Und vor allem ist Holacracy anspruchsvoll, weil man es erst beim Anwenden zu begreifen lernt.