„Mutiger mit Fehlern umgehen“

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Neben der grundsätzlichen Einsicht, dass Fehler hilfreich sind, ist das Verhalten und Mindset der Führungskräfte und Beschäftigten essenziell. Denn der aufgeschlossene Umgang mit Fehlern motiviert, mutiger mit ihnen umzugehen, so der Berater Sascha Lindner im Interview.

Die Ratgeber: Wie können Unternehmen Fehler ihrer Beschäftigten für sich nutzen und sie optimalerweise in eine Erfolgsgeschichte zu verwandeln?

Sascha Lindner: Dafür muss sich das Denken um 180 Grad ändern. Zu Beginn steht die Erkenntnis, dass es auch „gute Fehler“ gibt. Diese Einsicht ist aber zugleich der schwierigste Schritt in Organisationen. Ein CIO eines großen Automobilherstellers sagte im Rahmen einer Diskussion zum Thema Fehlerkultur zu mir: „Lasst uns doch einfach den Begriff Fehler durch Chance ersetzen.“ Ein guter Ansatz! Denn erst wenn dieses Umdenken stattfindet, wird ein Unternehmen die Fehler seiner Beschäftigten in Summe positiv betrachten und nutzbar machen. Und wenn zusätzlich auch Beschäftigte ihre Fehler annehmen und nicht als persönliches Versagen empfinden, können sie nützlich analysiert werden. Aus den Ergebnissen der Analyse lernt nicht nur der Beschäftigte. Gemeinsam sollte überlegt werden, wie Fehler künftig vermieden werden können. Davon profitiert das gesamte Unternehmen.

Sascha Kolbuch: Die Sichtweise auf den Fehler ist ein kleiner, aber wichtiger Aspekt und macht den Unterschied zwischen Erfolg und Niederlage aus. Daher ist es wichtig, mit dem Beschäftigten den Fehler im Kontext und mit den richtigen Fragen zu analysieren. Für einen Kunden haben wir beispielsweise einen Fragenkatalog entwickelt, um einen Mehrwert aus den geschehenen Fehlern zu generieren: Was war der ursprüngliche Plan? Was genau lief schief? Welche Umstände haben den Fehler ermöglicht? Wie hat der Fehler meine Herangehensweise verändert? Wie hilft mir der gemachte Fehler für die Zukunft? Diese strukturierte Reflexion hilft dabei, sich konstruktiv mit dem Fehler zu beschäftigen und ihm einen Vorteil abzugewinnen.

Die Ratgeber: Wie funktioniert ein optimales Fehlermanagement-System?

Lindner: Wenn man an ein Fehlermanagement-System denkt, assoziiert man direkt Regeln, Kontrollen oder einen festen Ablauf, der ganz klar vorgibt, was an welcher Stelle zu welchem Zeitpunkt getan werden muss, um Fehler zu identifizieren, zu analysieren und Maßnahmen abzuleiten. Der Fehler soll sich ja nicht wiederholen. Solche Systeme gibt es natürlich, jedoch geht ein Fehlermanagement weit darüber hinaus. Neben der grundsätzlichen Einsicht, dass Fehler hilfreich sind, ist das Verhalten und Mindset der Führungskräfte und Teamkollegen essenziell. Durch einen aufgeschlossenen Umgang mit Fehlern können sie als Vorbild dienen und andere Kollegen dazu motivieren, mutiger mit der Thematik umzugehen. Weiterhin sollten Beschäftigte auch die Fähigkeit besitzen, Fehler richtig einzuordnen. Ist es ein aktiver, also offensichtlicher Fehler, oder ist er versteckt? Und sie sollten auch in der Lage sein, die Folgekosten des Lapsus zu ermitteln.

Wir sehen in fehlertoleranten Unternehmen auch eine höhere Wahrscheinlichkeit für disruptive Geschäftsmodelle.

Kolbuch: Fangen wir bei der Führungsmannschaft an: Hier muss „von oben“ vorgelebt werden, dass Fehler zu machen erstmal keine Schwäche ist. Wir empfehlen den Verantwortlichen, sehr offen und proaktiv mit ihren eigenen Schwächen und persönlichen Herausforderungen umzugehen. So signalisieren sie, dass Fehler zu machen und um Hilfe zu fragen essenziell ist, damit man sich individuell, aber auch als Organisation weiterentwickeln kann und konstant lernt.

Bei den Beschäftigten ist es ähnlich gelagert. Hier muss das Verständnis erzeugt werden, dass Fehler etwas Gutes sind. Man hat einen neuen Weg kennengelernt, wie es nicht funktioniert. Das hört sich anfänglich etwas komisch an. Wenn man sich aber das Zitat von Michael Jordan, einem der größten Sportler aller Zeiten, vor Augen führt, leuchtet es schnell ein. „Ich habe mehr als 9.000 Mal nicht getroffen“, sagte der Basketballer. „Ich habe fast 300 Spiele verloren. Mir wurde 26 Mal der spielentscheidende Wurf anvertraut und ich habe nicht getroffen. Ich habe in meinem Leben immer wieder mal versagt und deshalb habe ich jetzt Erfolg.“ Er gewann mit den Chicago Bulls sechs Mal die US-Meisterschaft und holte bei Olympischen Spielen zwei Mal Gold.

Wenn man eine Kultur etabliert hat, in der man offen mit seinen persönlichen Herausforderungen umgehen kann, wird folglich auch keine Energie darauf verwendet, Fehler zu verdecken. Diese Energie fließt stattdessen sofort in kreative Lösungsfindungen und man kommt auf Ideen, die in anderen Kulturen erst einmal wegdiskutiert werden, da sie vielleicht risikobehaftet sind. Wir sehen in fehlertoleranten Unternehmen auch eine höhere Wahrscheinlichkeit für disruptive Geschäftsmodelle.

Die Ratgeber: Gibt es Branchen, in denen der Umgang mit Fehlern von vornherein offener ist als in anderen?

Kolbuch: Aus unserer Sicht gibt es keine Branche, die per se fehlertoleranter ist als eine andere. Es liegt eher an der Größe der individuellen Organisation und den letzten Entwicklungen in dieser Industrie. Je größer eine Organisation, umso weniger Fehler akzeptiert sie tendenziell, da man das bereits Erreichte und die Erfolge, die sich durch das Wachstum manifestiert haben, nicht riskieren möchte. Aus der Psychologie wissen wir, dass die Angst vor Verlust viel stärker wirkt als ein potenzieller Gewinn. Hier sind kleinere Organisationen klar im Vorteil – deshalb gründen Großkonzerne auch kleinste Inkubatoren aus.

Es gibt Industrien, die in den letzten Jahren durch starke Disruptionen geprägt wurden. Medienkonzerne und Telekommunikationsdienstleister haben bereits gemerkt, dass ihnen eine entsprechende Fehlerkultur geholfen hat und immer noch hilft. Eine der Industrien, die das gerade lernt, ist der Handel. Hier wird die Welle des Kulturwandels aber nicht aufhören. Obwohl die Pharmaindustrie derzeit noch stabil scheint, wird sie bald hart umkämpft sein und muss daher ihr Geschäftsmodell und ihre Fehlerkultur ganzheitlich überprüfen. Sie muss lernen, den Fehlern der eigenen Beschäftigten einen Wert zuzuschreiben.

Die Ratgeber: Wie schafft man es, Beschäftigte zu einem angstfreien Umgang mit Fehlern zu bewegen?

Lindner: Die Basis eines angstfreien Umgangs mit Fehlern ist eine fehlerfreundliche Grundhaltung. Dafür muss genau dieser Entwicklungsprozess auf der Einstellungs- und Verhaltensebene angestoßen und transparent gemacht werden. Wir müssen von Situationen weg, in denen Beschäftigte großen Wert darauflegen, voreinander und vor internen Stakeholdern gut auszusehen und sich dementsprechend schwertun, für Fehler einzustehen. Stattdessen müssen wir einen Zustand erreichen, in dem Beschäftigte Verantwortung für ihre Arbeit und auch ihre Irrtümer übernehmen, echtes Feedback auf Basis von Wertschätzung in alle Richtungen geben und auch aus „guten Fehlern“ lernen wollen. Notwendig dafür ist eine offene Fehlerkommunikation anhand konkreter Arbeitsbeispiele, ein bewusstes Vorbildverhalten von Führungskräften sowie spürbares und gezeigtes Vertrauen in die gesamte Mannschaft.

Beschäftigte sollten deshalb ermuntert werden, Risiken einzugehen, statt sie aktiv zu vermeiden.

Kolbuch: Bei unseren Kunden verlagern wir immer als erstes den Blickwinkel. „Weg vom Fehler und hin zum eingegangenen Risiko“ lautet das Motto. Fast jede Entscheidung in der heutigen „VUCA-Welt“ ist mit einem Risiko verbunden. Der Schlüssel liegt darin, dieses zu analysieren und gegebenenfalls zu minimieren. In Unternehmen, die Ausrutscher tolerieren, wird deshalb bei wichtigen Entscheidungen immer gleichzeitig erwähnt, welches Wagnis mit der Entscheidung verbunden war. Beschäftigte sollten deshalb ermuntert werden, Risiken einzugehen, statt sie aktiv zu vermeiden.

An zweiter Stelle gilt es, die Fehlertoleranz an sich zu erhöhen – vor allem im Management. Nicht jeder Schritt rückwärts ist ein Nachteil. In einigen Unternehmen werden die „Fehler der Woche“ gekürt und offen analysiert, was man persönlich und in der Gruppe gelernt hat. Sogenannte „Fuckup“-Veranstaltungen fördern diese Kultur, in der es nicht um Beschuldigungen geht, sondern um die Erfahrung und die Lernkurve. Kontinuierliche Verbesserung ist der rote Faden. Als drittes müssen die Fehler sachlich analysiert werden. Dem Verantwortlichen sollte dabei stets mit Respekt, positiver Haltung und weiterhin großem Vertrauen begegnet werden.

Die Ratgeber: Welche Rolle spielen Stress und Überarbeitung für die Fehlervermeidung?

Kolbuch: Aus unserer Erfahrung beeinflusst hauptsächlich Druck die Fehlerquote. Dieser kann verschiedene Ursachen haben. So kann etwa zu große Angst vor Fehlern dazu führen, dass Beschäftigte keine Risiken mehr eingehen und lieber nichts tun als etwas Falsches. Bei einigen Berufen und Situationen ist das auch angebracht – wie zum Beispiel bei Piloten oder Ärzten. Doch im Büro kann das hinderlich sein. Die Angst vor einem Tadel belastet in stark hierarchiegeprägten Organisationen außerdem die Beschäftigten. Eine zu hohe Arbeitslast ist auch nicht gerade dazu gedacht, weniger Patzer zu machen.

Die Ratgeber: Was sollte man bei der Rekrutierung neuer Beschäftigten beachten, um Fehlern möglichst vorzubeugen?

Kolbuch: Ein Kunde wollte einen radikalen Kulturwandel für seine Organisation. Ein Mittel hierfür war, bei der Einstellung und der Probezeit bereits darauf zu achten, ob ein Kandidat zur Unternehmenskultur passt. Wir haben daher zusammen einen „Ich weiß es nicht (IWEN)“-Faktor entwickelt. Diese Methode untersucht, in welchen Situationen der Bewerber zugibt, dass er etwas nicht weiß. Dafür werden dem Bewerber am Anfang des Gesprächs IWEN-Karten ausgehändigt. Er wird aktiv aufgefordert, diese einzusetzen, sofern er nicht mehr weiter weiß. Dieser spielerische Umgang hilft, offener mit seinen vermeintlichen Fehlern umzugehen.

Der IWEN-Faktor kann aber nicht nur im Rekrutierungsprozess verwendet werden. Unternehmen können jedem Beschäftigten IWEN-Karten geben. Jedes Mal, wenn er eine einsetzt, muss er sie abgeben – bei fast unbegrenztem Nachschub. Nach einiger Zeit verändert sich das Verhalten der Beschäftigten so, dass die Karten nicht mehr benötigt und durch einfache Strichlisten ersetzt werden konnten. Was sich verfestigt hat, ist, dass die Beschäftigten in Meetings so bereitwillig zugeben, dass sie etwas nicht wissen. Diese Offenheit ist essenziell für die richtige Fehlerkultur und hilft Organisationen, ihre Kultur schrittweise ehrlicher und fehlertoleranter zu gestalten.

 

Sascha Lindner (links) ist Leiter Change Management Practice bei der Managementberatung Horváth & Partners. Er studierte Wirtschaftswissenschaften mit den Schwerpunkten Finanzen und Controlling an der Universität in Hagen, bevor er 2007 für die Managementberatung tätig wurde. Der Wirtschaftsinformatiker Sascha Kolbuch ist Leiter HR Practice bei Horváth & Partners.

Sabine Hockling

Die Chefredakteurin Sabine Hockling hat WIR SIND DER WANDEL ins Leben gerufen. Die Wirtschaftsjournalistin und SPIEGEL-Bestsellerautorin beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit den Veränderungen unserer Arbeitswelt. Als Autorin, Herausgeberin und Ghostwriterin veröffentlicht sie regelmäßig Sachbücher – seit 2023 in dem von ihr gegründeten DIE RATGEBER VERLAG.