Paratoxische Führung: Der Widerspruch im Chefbüro

Mann schaut aus Bürogebäude runter

Sie klingt modern, wirkt vertrauenswürdig – und schadet dennoch: Paratoxische Führung zerstört Motivation und vergiftet die Kultur. Warum gute Absichten oft ins Gegenteil umschlagen – und was wirklich hilft.

Die Führungskraft lobt, fördert, fragt nach dem Befinden. Sie spricht von Vertrauen, Verantwortung, Entwicklung. Sie wünscht sich engagierte Mitarbeitende, fordert Feedback, preist Eigenverantwortung. Auf dem Papier klingt alles richtig. Doch es funktioniert nicht. Die Stimmung kippt, die Leistung stockt, die besten Talente gehen. Zurück bleiben Frust – und die Frage: Was läuft hier schief?

Der Ursprung liegt oft in einer schwer greifbaren, aber wirksamen Störung: paratoxische Führung. Sie ist kein klassischer Führungsstil, sondern ein systemisches Paradox. Sie zeigt sich in gut gemeinten Maßnahmen mit schädlicher Wirkung. Nicht Härte prägt sie, sondern Widersprüchlichkeit. Nicht autoritäre Kontrolle, sondern fehlende Klarheit zwischen Anspruch und Verhalten. Genau das macht sie so gefährlich.

Mitarbeitende spüren den Widerspruch, können ihn aber nicht benennen

Irrtümer und Mythen rund ums ArbeitsrechtParatoxische Führung tritt nicht wie der klassische Despot auf. Sie lächelt, fördert, motiviert. Doch hinter der Fassade bleibt Autonomie eine Illusion. Verantwortung wird delegiert, Kontrolle aber nicht losgelassen. Teams sollen entscheiden, doch bei Fehlern zeigt die Führung mit dem Finger. Offenheit wird gefordert, Kritik jedoch bestraft – direkt oder subtil. Vertrauen wird beschworen, gleichzeitig verdichten sich Regelwerke, Kennzahlen werden verschärft, Kontrollschleifen eingebaut.

Dieses Verhalten schafft ein Dilemma: Die Mitarbeitenden spüren den Widerspruch, können ihn aber nicht benennen. Das verunsichert. Wer widerspricht, gilt als illoyal. Wer mitläuft, fühlt sich manipuliert. Die Folge: ein schleichender Rückzug – emotional, gedanklich, schließlich physisch. Wer kann, geht. Wer bleibt, funktioniert. Doch echte Leistungsbereitschaft entsteht so nicht.

Paratoxische Führung tarnt sich gut

Der Wendepunkt kommt oft unbemerkt. Produktivität sinkt, Fluktuation steigt, Teams verlieren Motivation – die Symptome sind bekannt, die Ursachen nicht. Denn paratoxische Führung tarnt sich gut. Sie versteckt sich hinter Hochglanzwerten, modernen Methoden, agilen Versprechen. Doch unter der Oberfläche bleibt ein autoritärer Reflex: Kontrolle verschwindet nicht, sie verändert nur ihr Gesicht. „New Work“ wird zur Verpackung, nicht zum Wandel.

Spätestens wenn strategische Erneuerungen scheitern, Kulturprogramme versanden oder Veränderungsprojekte nur auf PowerPoint-Folien existieren, wird klar: Das Problem liegt nicht in der Struktur, sondern in der Haltung. Es reicht nicht, Führung neu zu benennen. Man muss sie anders leben. Und das beginnt mit einer unbequemen Einsicht: Gute Absicht ersetzt keine gute Wirkung.


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Wer Verantwortung fordert, muss sie auch gewähren

Die Lösung liegt nicht in weiteren Programmen, sondern in einem Führungsverständnis, das den Widerspruch auflöst. Wer Verantwortung fordert, muss sie auch gewähren. Wer Vertrauen will, muss Kontrolle abgeben. Wer Feedbackkultur will, muss Kritik aushalten. Führung heißt nicht, alles zu wissen oder zu steuern. Führung heißt Klarheit zu schaffen – in Rollen, Erwartungen, Konsequenzen. Und Führung heißt, das auszuhalten, was sie selbst freisetzt: echte Autonomie.

Dafür braucht es ein neues Selbstbild von Führungskräften: Nicht als Antreiber, nicht als Kümmerer, sondern als Möglichmacher. Das bedeutet nicht Rückzug, sondern Präsenz, Entscheidungsstärke, Integrität. Es verlangt, eigene Muster zu hinterfragen, Widersprüche zu erkennen und aufzulösen. Und es verlangt Mut – Mut zur Lücke, zur Offenheit, zur Verantwortung auf Augenhöhe.

Paratoxische Führung entzieht Organisationen die Luft zum Atmen

Organisationen, die das schaffen, verändern nicht nur ihre Führung, sondern ihre Kultur. Sie schaffen Räume, in denen Menschen nicht nur funktionieren, sondern beitragen wollen. In denen psychologische Sicherheit entsteht – nicht durch Nachgiebigkeit, sondern durch Klarheit. In denen Konflikte produktiv sind, weil sie nicht bestraft, sondern geführt werden. Und in denen Leistung nicht erzwungen, sondern ermöglicht wird.

Paratoxische Führung erstickt Organisationen. Ihre Überwindung erfordert keine neuen Methoden, sondern eine neue Haltung. Wer Führung wirklich verändern will, muss aufhören, sie zu inszenieren. Und anfangen, sie zu leben. Denn echte Führung zeigt sich nicht in Programmen. Sie zeigt sich in Momenten. In Entscheidungen. Im Verhalten. Immer dort, wo das gesprochene Wort mit der gelebten Realität übereinstimmt. Alles andere bleibt gut gemeint. Und damit: gefährlich.

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Sabine Hockling

Die Chefredakteurin Sabine Hockling hat WIR SIND DER WANDEL ins Leben gerufen. Die Wirtschaftsjournalistin und SPIEGEL-Bestsellerautorin beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit den Veränderungen unserer Arbeitswelt. Als Autorin, Herausgeberin und Ghostwriterin veröffentlicht sie regelmäßig Sachbücher – seit 2023 in dem von ihr gegründeten DIE RATGEBER VERLAG.