Empathie ist eine wichtige menschliche Fähigkeit. Theoretisch weiß das jeder. Gerade heutzutage scheint sie wichtiger denn je zu sein. Doch sie ist ein rares Gut geworden. Was verbirgt sich hinter diesem Begriff? Antworten hat Monika Hein.
Was meinen wir genau, wenn wir jemandem zuschreiben, ein empathischer Mensch zu sein? Und gibt es eigentlich auch ein zu hohes Maß an Empathie? Barack Obama beispielsweise spricht immer wieder über das Empathie-Defizit unserer Zeit: Wir stellen uns anscheinend nicht mehr gerne in die Schuhe anderer und lassen uns von ihrem Leid berühren. Sind wir viel zu viel mit uns selbst beschäftigt?
Menschen fehlt heutzutage die Einfühlung an so vielen Stellen, dass uns regelmäßig übel werden müsste. Denn wir geben uns oft nicht mal mehr Mühe, empathisch zu sein, uns einzufühlen. Egoismus und Verurteilungen sind da viel einfacher als uns in Empathie zu üben. Der Grund? Empathie kann Kraft kosten und umständlich sein. Sie erfordert Achtsamkeit im Umgang mit uns selbst und anderen. Sie kann uns allerdings auch schwächen. Dennoch kann sie revolutionär sein.
Die Herzens- und die Verstandesebene ergeben eine gute Kombination an Einfühlung
Empathie beschreibt erst einmal die Fähigkeit, zu erkennen, was ein anderer fühlt. Zu erahnen, was jemanden freut, was ihn quält, was ihm peinlich ist, was ihn begeistert. Hierfür nutzen wir viele Quellen: Wir „lesen“ andere anhand der Physis, Gestik, Mimik, am Stimmklang und an ihrer Wortwahl. Wenn die Kollegin mit düsterer Miene an ihren Platz schleicht, braucht es nicht besonders viel Phantasie, um zu wissen: Hier ist die Stimmung getrübt. Wenn wir vertraute Menschen anrufen und eine monotone, leise Stimme hören, ohne jegliche Ausdruckskraft, dann wissen wir nach wenigen Sekunden, wie es ihr oder ihm gerade geht.
Natürlich können wir auch positive Gefühle hören und sehen – Freude und Überschwang klingen melodiös, kraftvoll und fröhlich. Auch hier ist Empathie im Spiel: Im besten Falle freuen wir uns mit dem anderen. Es geht also darum, Gefühle anderer entweder selbst zu fühlen – hier sprechen wir von der emotionalen Empathie – oder diese zu verstehen – hier ist von der kognitiven Empathie die Rede. Beide zusammen, die Herzens- und die Verstandesebene ergeben eine gute Kombination an Einfühlung.
Immer im Clinch: Das Ego und die anderen
Doch damit ist es noch lange nicht getan: Was fange ich denn nun mit diesem Wissen in Herz und Hirn an? Denn zu wissen, wie jemand fühlt, ist nur die halbe Miete. Viel entscheidender ist: Was mache ich mit dieser Information? Wie verhalte ich mich nun? Diese Frage muss in jedem einzelnen Moment mit Bedacht beantwortet werden. Im Alltag stoßen wir diesbezüglich oft auf eine Hürde: auf uns selbst.
In zahlreichen Methoden wird es uns vorgemacht: Das „Ich“ wird in vieler Hinsicht optimiert, repariert, in Szene gesetzt und aufpoliert. Die Coaching-Szene setzt heute auf Selbstentwicklung. Zweifelsfrei richtig und wichtig. Nur wir selbst können uns entwickeln. Ein Nachteil aber tut sich auf. Wenn sich einzelne allzu lange selbst in die Seele starren, wird die Verbindung zu anderen auch mal brüchig. Jeder kreist um sich selbst, erfindet sich neu und durchlebt erhellende Prozesse. Der Egotrip ist in vollem Gange.
In Beziehungen, Familien, Teams und Unternehmen könnte diese Selbstbezogenheit dazu führen, dass wir einander nicht mehr sehen, gar nicht mehr sehen können. Der Blick wird eng, schaut fast ausschließlich nach innen. Wir lassen uns weniger aufeinander ein, die Verbindungen werden dünn und unverbindlich.
Empathen haben es zuweilen sehr schwer
Es interessiert uns schließlich nur noch wenig, dass ein Rentner in der Sparkasse kollabiert: Wieso sollte ich helfen, ich wollte doch nur Geld abheben. Es wird sich schon jemand anderer um ihn kümmern. Wo es aber ein „zu wenig“ an Empathie gibt, kann es auch ein „zu viel“ geben. Wie so oft im Leben fehlt es an Balance.
Wenn wir nur noch Rücksicht darauf nehmen, wie es den anderen geht. Wenn wir wie auf Eierschalen gehen, um niemanden einzuschränken. Wenn wir vorsichtig aufspüren, wie weit wir uns ausbreiten dürfen, niemandem zur Last fallen wollen und uns von allem berühren lassen, dann wird aus der Empathie eine Last. Wir sind nicht mehr wir selbst, sondern docken bei anderen und deren Gefühlen an.
Bei diesen sehr sensiblen Menschen liegt die Gefahr nahe, ausgenutzt zu werden, ihre Kraft an andere zu verschwenden. Vielleicht kennen Sie solche Menschen: Kollegen oder Freunde, die scheinbar profillos nur darauf warten, die Wünsche anderer zu erfüllen. Empathen haben es zuweilen sehr schwer, in unserer Gesellschaft klarzukommen.
Der Schlüssel: Sich selbst ein guter Freund sein
Zwischen dem „zu viel“ und dem „zu wenig“, zwischen dem Ego und dem Wohl der anderen gilt es, sich immer wieder achtsam zu navigieren. Wenn wir weder stumpf und selbstbezogen noch schwach und ständig betroffen leben wollen, dann gibt es einen weiteren Weg: die Mitte, das Mitgefühl. Der buddhistische Mönch Matthieu Ricard und die Forscherin Tania Singer haben neurophysiologisch signifikante Unterschiede zwischen zwei verwandten Haltungen gefunden: Empathie und Mitgefühl.
Bei der „reinen“ Empathie zerreißen mich die Bilder der hungernden Kinder. Die Kollegin, die erkrankt ist, lässt mich nicht ruhig schlafen. Die Krisen und Kriege der Welt rauben mir meine Ruhe. Zu handeln wird mir unmöglich, denn ich erstarre bei all dem Elend. Beim Mitgefühl hingegen wünsche ich den Betroffenen das Beste. Ich helfe in meinem unmittelbaren Umfeld, wo ich es kann. Ich bleibe dabei aber stabil und sicher, kenne meine Möglichkeiten und weiß, dass ich nicht alles auf dieser Welt verändern kann. Ich achte darauf, dass es mir weiterhin gut geht UND ich für andere da sein kann.
Empathie erlaubt uns, weich zu werden und mit anderen mitzufühlen
Meine Definition von Empathie hat sich in die Richtung verändert, wie die Wissenschaft das Mitgefühl beschreibt: Eine freundschaftliche Grundhaltung. Diese Fähigkeit übe und trainiere ich allerdings zunächst an mir selbst. Statt mich also immer wieder ins Zentrum des Universums zu stellen, mich immer grandioser zu finden, kann ich auch innehalten und mir meine Haltung mir selbst gegenüber anschauen:
- Bin ich selbst-bewusst mit sowohl all meinen Macken, Schwächen und schrägen Angewohnheiten als auch meinen Stärken?
- Mag ich mich so, wie ich bin und gehe ich mit mir so um, als würde ich mich tatsächlich ganz nett finden?
- Kenne und achte ich meine Bedürfnisse?
- Vertrete ich diese anderen gegenüber und lasse ich mich auf einen Austausch auf Augenhöhe ein?
- Kenne ich die volle Palette meiner Gefühle, lasse sie zu und kenne ich meine Möglichkeiten, mit ihnen umzugehen?
Wenn Sie ein paar dieser Fragen mit einem JA beantworten können, dann sind Sie vermutlich empathisch mit sich selbst und können dies auch leicht anderen entgegenbringen.
Empathie ist also eine Fähigkeit, die es uns erlaubt, weich zu werden und mit anderen mitzufühlen. Sanft und liebevoll zu sein, Verständnis und Interesse zu zeigen, und sich selbst dabei niemals aus dem Blick zu verlieren. Sie ist eine freundschaftliche und wohlwollende Haltung, die es uns erlaubt, für andere da zu sein. Wenn wir diese Haltung üben und kultivieren, können wir einiges in dieser Welt verändern: Zetteln wir eine empathische Revolution an!
Dr. Monika Hein ist Phonetikerin, Business Coach und Vortragsrednerin. Sie arbeitet seit 2004 als freiberufliche Stimm- und Sprechtrainerin, unter anderem mit Schauspielern, Sprechern, Moderatoren, Lehrkräften, Führungskräften, Anwälten, Notaren und Verkäufern. Ihr aktuelles Buch Empathie – ich weiß, was Du fühlst ist im Gabal Verlag erschienen.