Folge deinen Schnapsideen!

Skyline New York

Wie Christina Horsten und Felix Zeltner, die mit Kind und zwei Vollzeitjobs ein Jahr lang in New York jeden Monat in ein anderes Stadtviertel zogen. Drei Lektionen, die sie daraus fürs Leben gelernt haben.

Erst war es eine Kinder hassende Vermieterin, dann eine saftige Mieterhöhung – und wir standen zum zweiten Mal innerhalb von einem Jahr auf der Straße. In New York, der Metropole mit dem wohl brutalsten Wohnungsmarkt der Welt. Auf die Verzweiflung folgte der Trotz: Jetzt erst recht! Unsere Schnapsidee: Wir ziehen ein Jahr lang jeden Monat in ein anderes Viertel. So lernen wir die Stadt völlig neu kennen, können die verschiedenen Ecken austesten und wissen am Ende, wo wir wirklich hingehören. Aus der Schnapsidee wurde ein Achterbahn-Jahr, mit vielen Tiefen, noch mehr Höhen – und so einiges an Lebenslektionen:

1. Sei bereit, dich zu trennen

Selten haben wir uns so frei gefühlt, wie in dem Moment, als wir in Vorbereitung unserer Umzugsodyssee unsere Wohnung ausgemistet haben: Betten, Spielzeug, alte Küchengeräte, Krempel – auf der Suche nach neuen Besitzern kam all das auf die Straße oder wurde gespendet. Wir behielten nur das Nötigste, bzw. das, was wir zunächst dafür hielten. Während des Jahres wurde das immer weniger und weniger und zum Schluss waren wir jeder nur noch mit einem Koffer unterwegs – und einer kleinen Kiste mit Spielsachen für Emma. Umziehen oder reisen bedeutete nun nicht mehr Koffer packen, sondern Koffer zuklappen. Ein wahnsinnig befreiendes Gefühl!

Minimalismus oder Existenzialismus ist sicher nichts für jeden. Aber jeder kann sich überlegen, worauf es ihm beim Wohnen wirklich ankommt. Was man wirklich braucht, und was nicht. Was man ein Jahr lang nicht angefasst hat, kann in der Regel weg. Was man jeden Tag benutzt, sollte hochwertig oder heißgeliebt sein. Alles andere ist Ballast.


Christina Horsten und Felix Zeltner leben mit ihren inzwischen zwei kleinen Töchtern in New York. Ihr Buch Stadtnomaden – Wie wir in New York eine Wohnung suchten und ein neues Leben fanden (mit der ganzen Geschichte rund um das Umzugsabenteuer und zahlreichen weiteren Lebenslektionen) ist im Benevento Verlag erschienen.

 


2. Verlasse deine Komfortzone

Egal, wem wir dieser Tage von unserem Umzugsprojekt erzählen, die erste Frage ist fast immer die gleiche: „Und wo war es am Schönsten?” Aber so offensichtlich die Frage, so schwierig die Antwort. Schön war es überall auf seine eigene Weise. Die Upper West Side mit dem Central Park, oder Dumbo mit seiner dramatischen Aussicht auf Manhattan sind natürlich beide wahnsinnig schön. Aber um das zu lernen, muss man nicht so oft umziehen.

Am tiefsten ins Gedächtnis eingegraben haben sich eher die Viertel, die am meisten überrascht haben. Die wir vorher kaum kannten und für eher abgelegen und weniger schön hielten. Wo wir eigentlich nicht unbedingt wohnen wollten: Die Bronx im Norden oder Staten Island im Süden. Zwei Viertel, die wir während des Projekts weiter und weiter vor uns her schoben. Und die uns dann mit einer Terrasse im Grünen, Hühnergegacker am Morgen und dem besten mexikanischen Essen der Stadt (Bronx) und Sandburgen bauen am Strand, Baseball mit Feuerwerk, Yoga mit Blick auf die Skyline und San Francisco-Gefühl (Staten Island) überwältigten. Zwei Viertel, die eigentlich außerhalb unserer Komfortzone lagen – uns aber dann mit die schönsten Erfahrungen bescherten.

Auch in New York bleiben viele Menschen gerne in ihren Komfortzonen. Das wirklich Spannende aber passiert außerhalb davon. Um das zu erleben, muss man zwar nicht gleich umziehen. Wie aber wäre es, einmal eine Woche lang jeden Tag einen anderen Weg zur Arbeit zu fahren? Jedes Lokal, jeden Laden, jede offene Tür auf der eigenen Straße auszuprobieren? Oder die Nachbarn zum Neighborhood-Dinner einzuladen, so wie wir es in jedem Viertel gemacht haben? Die Komfortzone zu verlassen, kostet Überwindung und führt natürlich nicht immer nur zu schönen Erlebnissen. Aber wenn, dann sind sie so richtig schön.

3. Folge deinen Schnapsideen

Natürlich war unsere Idee kompletter Irrsinn. Und natürlich gab es viele Leute, die uns das immer wieder gesagt haben – und selbstverständlich recht hatten. Aber für uns hat sich die Idee trotzdem von Anfang an irgendwie richtig angefühlt. Und das ist, was zählt. Wenn man von etwas, aus was für einem Grund auch immer, wirklich überzeugt ist – einfach machen! Oder zumindest ausprobieren! Scheitern ist natürlich immer möglich, aber dann hat man es zumindest versucht.

Einen ersten Schritt kann jeder machen. Wenn es gut läuft, werden die Kritiker ganz schnell zu Unterstützern – so wie unsere Eltern. Oder Freunde, Bekannte und auch völlig fremde Menschen, die uns inzwischen immer wieder sagen, wie sie unser Projekt inspiriert habe. Zum Ausmisten, Aufbrechen oder dazu, die eigene Stadt neu zu entdecken. Als wir auf einer Party beiläufig unser Projekt erwähnten, fragte eine Frau in der Runde spontan: „Wo kann man das buchen? Ich bin gerade nach New York gezogen und will das auch machen!” Unsere Schnapsidee, so stellt sich immer mehr heraus, war vielleicht die beste, die wir je hatten.

Neulich haben wir unsere kleine Tochter Emma gefragt: „Wie fandest du das, als wir jeden Monat in eine andere Wohnung gezogen sind?” Ihre Antwort: „Nochmal machen!”

 

Christina Horsten ist New York-Korrespondentin der Deutschen Presse-Agentur dpa. Sie wuchs in Bonn, Prag und in Berlin auf, wo sie an der Freien Universität promovierte. Für die dpa kehrte sie 2012 zurück in ihre Geburtsstadt New York. Felix Zeltner ist Journalist und Mitgründer der New Yorker Firma Work Awesome, die weltweit Konferenzen und Workshops zur Zukunft der Arbeit organisiert. Er stammt aus Nürnberg und absolvierte die Deutsche Journalistenschule in München. Für seine Arbeit (Arte, ARD, Der Spiegel) wurde er mehrfach ausgezeichnet.

Die Ratgeber-Redaktion

Unter der Autor:innen-Bezeichnung REDAKTION veröffentlichten DIE RATGEBER von 2010 bis 2020 Gastbeiträge sowie Agenturmeldungen. Im August 2020 gingen die Inhalte von DIE RATGEBER auf die Webseite WIR SIND DER WANDEL über.