Impfpflicht-Diskussion macht Pflegekräfte wütend

Corona Impfstoff

Sollte es eine Impfpflicht für Beschäftigte in der Pflege geben? Die Diskussion darüber spaltet die Branche und macht Pflegekräfte wütend. Denn Zahlen legen nahe: Die meisten sind geimpft.

An einer wie ihr entbrennt sich der Streit über die Impfpflicht: Sandra ist examinierte Altenpflegerin, arbeitet in einem Pflegeheim in Mecklenburg-Vorpommern – und sie ist ungeimpft. Wegen Angst vor Anfeindungen will sie nur ihren Vornamen öffentlich in den Medien sehen. Sandra hält eine Impfpflicht für ein “absolutes No-go” und fühlt sich unter Druck gesetzt. Warum ist sie nicht geimpft? “Ich bin nicht gegen das System, ich bin einfach unsicher”, sagt sie. Sie zögert mit der Impfung, hält sich aber nicht uninformiert. Sie weiß, wie die Impfstoffe funktionieren, dass Spätfolgen als unwahrscheinlich gelten. Und trotzdem hat sie Angst, sich impfen zu lassen. “Weil die Impfstoffe neu sind, noch nicht so lange erprobt. Weil so viel Druck gemacht wird, sich impfen zu lassen – das verunsichert mich”, sagt sie. Und dann sind da noch andere Argumente: “Auch Geimpfte können sich anstecken. Auch Geimpfte können das Virus weitergeben. Die Impfung verhindert eben nicht, dass das Virus weiter zirkuliert. Sie beeinflusst vor allem den persönlichen Verlauf. Außerdem sollte jeder Mensch diese persönlich Entscheidung selbst treffen dürfen”, so Sandra.

Ihre Kollegin Vanessa Müller kann eine solche Einstellung nicht verstehen. Auch sie ist Pflegekraft und berichtet von einem Corona-Ausbruch in der Pflegeeinrichtung in Karlsruhe, in der sie arbeitet. Woher das Virus kam, ist unklar. Aber möglicherweise hat es sich durch ungeimpftes Personal verbreitet. “Seit Wochen kommen wir an unsere psychischen sowie physischen Grenzen. Es ist ein Teufelskreis. Personal ist krank, jemand muss einspringen. Die Anzahl der Überstunden steigt und diese Kollegen fallen früher oder später auch aus. Wir versuchen täglich unser Bestes zu geben, aber mehr als die Grundversorgung ist aktuell unmöglich”, erzählt Müller. Sie kann nicht mehr. Daher begrüßt sie, dass die Politik über die Einführung einer Impfpflicht für ihre Branche nachdenkt.

“Wenn man für Menschen Verantwortung trägt, ist es nicht allein eine individuelle Entscheidung, ob man geimpft ist oder nicht”

SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil hat angekündigt, dass eine Entscheidung schon recht bald fallen soll. Der mögliche neue Bundeskanzler und geschäftsführende Bundesfinanzminister, Olaf Scholz (SPD), befürwortet die Diskussion ebenfalls. “Ich finde es richtig, dass wir jetzt eine Diskussion darüber begonnen haben, ob man das machen soll”, sagte Scholz am 15. November 2021 beim Wirtschaftsgipfel der Süddeutschen Zeitung. Allein darüber zu sprechen, sei schon eine deutliche Aussage – SPD, Grüne und FDP hätten diese Debatte bewusst geöffnet. Und der Blick ins Ausland zeigt, dass so die Impfquote in Gesundheitsberufen gesteigert werden kann kann. In Italien wurde die Impfpflicht für Gesundheitsberufe schon im April 2021 eingeführt, die Impfquote betrug laut einem Bericht des Handelsblatts im Juni 2021 98 Prozent. Auch in Griechenland war das so – Mitte August lag die Impfquote in Gesundheitsberufen bei 83 Prozent, im September kam die Impfpflicht. Heute sind 95 Prozent der Beschäftigten im Gesundheitssektor geimpft. Ebenso in Frankreich, wo sich Pflegekräfte, Ärzte und Ärztinnen seit Mitte September impfen lassen müssen – mittlerweile wurden über 90 Prozent immunisiert.

Hierzulande wollen nun vor allem die Grünen eine ähnliche Regelung. “Ich bin persönlich fest davon überzeugt, dass wir angesichts der dramatischen Zahlen unbedingt eine einrichtungsspezifische Impfpflicht im Gesundheitswesen brauchen” sagte etwa der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen. Man müsse den Menschen im Gesundheitswesen klarmachen: “Wenn man für andere Menschen Verantwortung trägt, ist es nicht allein eine individuelle Entscheidung, ob man geimpft ist oder nicht.”

“Es macht mich fassungslos, wie mit uns Pflegekräften umgegangen wird”

Yvonne Falckner, Impfbefürworterin und selbst bereits geboostert, aber machen Sätze wie dieser wütend: “Erst wurden wir beklatscht, jetzt werden wir als die verantwortungslose Impfverweigerer hingestellt, die die Pandemie befeuern. Dabei sind die allermeisten Pflegekräfte längst geimpft – sogar dreifach”, sagt die examinierte Krankenschwester aus Berlin. Falckner macht seit vielen Jahren auf den Pflegenotstand mit dem von ihr gegründeten CareSlam öffentlich aufmerksam. Sie sagt, das letzte was die Beschäftigte gebrauchen könnten, sei eine die Diskussion über eine Impfpflicht. “Das hat doch mit ernsthafter Politik nichts zu tun. Wir haben ganz andere Probleme”, sagt Falckner. Sie hält das Ganze für Symbolpolitik und fordert mehr Wertschätzung, mehr Personal, eine Gleichstellung von Altenpflege und Klinikpflege und vor allem eine bessere Finanzierung.

Auch die Präsidentin des Pflegerats, Christine Vogler, muss angesichts solcher Sätze wie die des Grünen-Politikers Dahmen erst einmal tief durchatmen. “Es gibt viele undifferenzierte und auch unqualifzierte Aussagen”, sagt sie. Die Diskussion erlebe sie als zugespitzt. Der Pflegerat sieht eine Impfpflicht für Pflegekräfte kritisch, lehnt sie aber nicht ab, sondern kritisiert, dass eine solche Maßnahme den Druck auf die Beschäftigten verschärft. “Es macht mich fassungslos, wie mit uns Pflegekräften umgegangen wird. Erst hat man jahrelang den Pflegenotstand ignoriert. Dann wurden wir kurzzeitig beklatscht, jetzt wird eine Scheindebatte über eine Impfpflicht geführt. Dabei sind wir es doch, die alle versorgen und bei denen die Impfquote besonders hoch ist”, so Vogler.

Über 90 Prozent der Krankenhaus-Pflegekräfte ist geimpft

Der Pflegerat verweist – wie auch die Gewerkschaft ver.di – auf die bereits sehr hohe Impfquote unter Pflegekräften. Die liegt laut einer Studie des Robert Koch-Instituts (RKI) vom Oktober 2021 bereits auf dem Niveau, das im Ausland erst durch Einführung der Impfpflicht erreicht wurde – in der Krankenhauspflege nämlich bei über 90 Prozent. Die Untersuchung basiert auf Daten einer Befragung, die bereits zwischen Ende Juni und Ende Juli 2021 durchgeführt worden ist. Damals waren 91 Prozent des Krankenhauspersonals vollständig geimpft, vier weitere Prozent waren noch nicht vollständig geimpft, dürften es heute aber sein. Nur fünf Prozent waren nicht geimpft. Von diesen gab auch nur die Hälfte an, sich nicht impfen lassen zu wollen. “Wir sprechen also über eine sehr kleine Gruppe”, stellt Vogler klar.

Für die Beschäftigten in Altenpflegeheimen und in der ambulanten Altenpflege liegen keine Daten vor. Die Altenpflege ist zu kleinteilig strukturiert, ein Auskunfsrecht über den Impfstatus für Arbeitgeber fehlt bisher – damit gibt es auch keine Grundlage für eine Erhebung der Impfquote. Der Pflegerat vermutet aber, dass die Impfquote unter den examinierten Kräften ebenfalls über dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung liegt. Zudem geht Vogler davon aus, dass die Impfquote seit Erhebungszeitraum der RKI-Studie im Sommer noch einmal gestiegen sein dürfte.

“Eine Pflicht zum Impfen wäre der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brächte”

Deutschlands größter privater Pflegekonzern Korian, der bundesweit 250 Einrichtungen und 51 ambulante Dienste betreibt, hat Daten für seine Beschäftigten erhoben. Dem Konzern zufolge sind 73 Prozent der Mitarbeitenden geimpft. In den letzten Wochen habe die Bereitschaft bei den noch ungeimpften Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern deutlich zugenommen, teilt eine Sprecherin mit. Korian setze daher auch weiter auf Aufklärung und mache Impfangebote. Das Unternehmen, dessen Muttergesellschaft seinen Sitz in Frankreich hat, würde aber auch eine Impfpflicht begrüßen. Dass dadruch Personal vergrault würde, glaubt man nicht. Bei den Korian-Gesellschaften in Frankreich und Italien habe man nicht erkennen können, dass die Einführung der Impfpflicht in einem nennenswerten Maße zu einer Abkehr aus dem Beruf geführt habe.

Genau das ist aber ein zentrales Argument, das in der Diskussion gegen die Einführung einer Impfpflicht angeführt wird. Etwa von der Gewerkschaft ver.di. “Wenn jetzt über eine Impfpflicht nachgedacht wird, führt das nicht dazu, dass signifikant mehr Menschen geimpft werden, sondern dass noch mehr Betroffene ihren Beruf verlassen werden”, sagt verdi-Vorsitzender Frank Werneke. Zudem werde das Glaubwürdigkeitsproblem in der Politik verstärkt, nachdem eine Impfpflicht zuvor monatelang ausgeschlossen wurde. “Für die Beschäftigten bleibt die frustrierende Erfahrung, dass sie von der Politik und den Arbeitgebern meistens nur mit warmen Worten abgespeist werden sollen.”

Die ungeimpfte Altenpflegerin Sandra sagt, sie würde auf jeden Fall über eine Kündigung nachdenken, wenn die Impfpflicht kommt. Dabei geht es ihr gar nicht um den Eingriff an sich, sondern um Protest an der Politik. “Wir Pflegekräfte tragen doch schon so viel Verantwortung. Eine Pflicht zum Impfen wäre der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brächte.”

“Eine berufsbezogene Impfpflicht kann in der Pandemiebekämpfung nur eine überschaubare Wirkung haben”

Vanessa Müller kann das nicht nachvollziehen. Aus ihrer Sicht sind diese Kolleginnen und Kollegen, die sich nicht impfen lassen wollen und im Krankheitsfall den geimpften Kollegen Mehrarbeit aufbürdeten, vielleicht sogar verzichtbar. Trotzdem geht sie nicht davon aus, dass viele heutige Umgeimpfte wirklich kündigen würden. “Seit Jahren sind die Bedingungen in der Pflege äußerst bescheiden. Wenn dies kein Grund für eine Kündigung war, wird die Impfpflicht auch keiner sein”, sagt die Pflegerin.

Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) erwartet ebenfalls keine massenhaften Kündigungen. Nur noch mit geimpften Personal zu arbeiten, könnte für die Arbeitgeber bei der Einhaltung der Schutzkonzepte vielleicht sogar etwas einfacher sein. Trotzdem glauben die privaten Pflegebetreiber nicht, dass die Maßnahme einen spürbaren Effekt auf den Verlauf der Pandemie hätte. Der Präsident des Verbands, Bernd Meurer, sagt: “Eine berufsbezogene Impfpflicht kann in der Pandemiebekämpfung nur eine überschaubare Wirkung haben. Was soll sie bewirken, wenn bei Rekordinfektionszahlen die Besucher der Heime, das Reinigungspersonal ebenso wie die Kontakte der Pflegebedürftigen zu Hause weiterhin ungeimpft sein können?”

“Die Pandemie betrifft uns alle. Und wir alle können sie stoppen, wenn wir uns nur impfen lassen”

Pflegeratspräsidentin Vogler verweist auf die bislang geringe Anzahl an tödlichen Corona-Ausbrüchen in Pflegeeinrichtungen während der vierten Welle: “Es gibt mehr als 15.000 Einrichtungen hierzulande – in nicht einmal einem Dutzend ist es bisher zu tödlichen Ausbrüchen gekommen. Man muss die Verhältnismäßigkeit wahren.”

Einer dieser Fälle ereignete sich kürzlich in einer Pflegeeinrichtung im Landkreis Barnim. Bisher starben 16 Bewohnerinnen und Bewohner – die Impfquote in dem Seniorenheim lag bei 50 Prozent. Da stellt sich die Frage: Ist nicht jeder Fall einer zu viel, soll man das einfach akzeptieren und vielleicht sogar weitere in Kauf nehmen?

Ginge es nach der Gesundheits- und Krankenpflegerin Jennifer G., darf das auf keinen Fall sein. Sie ist für die Impfpflicht und geht noch einen Schritt weiter. Aus diesem Grund will sie auch nicht ihren vollen Namen – sie hat Angst vor Angriffen. Die Krankenpflgerin fordert nämlich eine generelle Impflicht “für alle, die gesamte Bevölkerung über 12 Jahren und sofern keine medizinischen Gründe dagegen sprechen”. Sie hat auch ein entscheidendes Argument: “Die Pandemie betrifft uns alle. Und wir alle können sie stoppen, wenn wir uns nur impfen lassen.”

Tina Groll

Tina Groll arbeitet hauptberuflich als Redakteurin bei ZEIT ONLINE im Ressort Politik & Wirtschaft. 2008 zeichnete sie das Medium Magazin als eine der “Top 30 Journalisten unter 30 Jahren“ aus. Sie ist Mitglied im Deutschen Presserat sowie als Vorsitzende der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union tätig. Als Autorin von WIR SIND DER WANDEL beschäftigt sie sich mit der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Gesundheitspolitik.