„Viele überfordern sich täglich und brennen langsam aus“

Das Gesicht einer Frau spiegelt sich in einem Fenster

Die Belastung am Arbeitsplatz wächst unaufhaltsam – immer mehr Beschäftigte fühlen sich dauerhaft ausgelaugt. Doch was treibt diese Entwicklung an? Carola Kleinschmidt erklärt im Interview, wie Unternehmen die psychische Gesundheit stärken und eine offene Gesprächskultur fördern können.

Im Fokus Mentale Gesundheit

Mentale Gesundheit ist längst kein Randthema mehr – sie betrifft immer mehr Menschen und prägt das Berufsleben tiefgreifend. Die Belastung am Arbeitsplatz wächst, und mit ihr häufen sich Erschöpfung, Stress und psychische Erkrankungen. Studien zeigen: Rund die Hälfte der Beschäftigten fühlt sich dauerhaft ausgelaugt, und die Zahl der Krankheitstage durch psychische Beschwerden steigt seit Jahren stetig. Besonders in Branchen mit hohem Druck, etwa in der Pflege oder im sozialen Bereich, sind die Belastungen enorm.

Das Eingestehen von Stress und Überforderung ist in Führungsetagen oft ein Tabu

Irrtümer und Mythen rund ums ArbeitsrechtDoch was treibt diese Entwicklung an? Neben steigenden beruflichen Anforderungen wirken gesellschaftliche und wirtschaftliche Faktoren mit. Digitalisierung, Unsicherheiten auf dem Arbeitsmarkt und eine zunehmende Verdichtung der Arbeit setzen viele unter Druck. Gleichzeitig hat sich der Umgang mit psychischen Erkrankungen gewandelt. Zwar spricht man heute offener über psychische Belastungen als noch vor 20 Jahren, doch gerade in Führungsetagen bleibt es oft ein Tabu, Stress und Überforderung einzugestehen.

Unternehmen stehen daher vor der zentralen Aufgabe: Sie müssen Arbeitsbedingungen schaffen, die die psychische Gesundheit stärken, und eine Kultur fördern, in der man offen über Belastungen spricht. Wie dieser Wandel gelingen kann und welche Maßnahmen langfristig mehr mentale Stabilität in der Arbeitswelt sichern, erläutert Carola Kleinschmidt, Bestseller-Autorin und zertifizierte Trainerin für multimodales Stressmanagement, im Interview.

Wir sind der Wandel: Wie steht es um die mentale Gesundheit der Arbeitnehmenden?

Carola Kleinschmidt: Rund 55 Prozent der Deutschen fühlen sich erschöpft, zeigen Umfragen. Erschöpfung ist zwar keine Krankheit, aber ein Warnsignal: Viele überfordern sich täglich und brennen langsam aus. Die Folgen von dauerhaftem Stress können ernsthafte psychische Beschwerden wie Ängste, Depressionen oder Schlaflosigkeit sein.

Wir sind der Wandel: Wie hat sich die mentale Gesundheit in den letzten 20 Jahren entwickelt?

Kleinschmidt: Die Krankheitstage wegen psychischer Probleme steigen seit Jahren. Ängste und depressive Verstimmungen sind die häufigsten Gründe für Arbeitsausfälle. In den letzten zehn Jahren nahmen die Fehltage um 50 Prozent zu. Viele fühlen sich heute stärker belastet als früher, besonders in sozialen Berufen und der Altenpflege, wo Personalmangel den Druck erhöht. Studien zeigen auch: In Unternehmen, die umstrukturieren oder entlassen, erkranken mehr Beschäftigte psychisch.

„Hohe Ansprüche an sich selbst verstärken Stress“

Wir sind der Wandel: Welche gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen haben die mentale Gesundheit am stärksten geprägt?

Kleinschmidt: Arbeitnehmende leiden vor allem unter Arbeits- und Ausbildungsdruck. Hohe Ansprüche an sich selbst verstärken dabei den Stress. Das zeigt: Die meisten wollen ihren Job gut machen, doch Arbeitsverdichtung, Umstrukturierungen und Personalmangel erschweren es, den eigenen Qualitätsanspruch – der ja durchaus zu begrüßen ist – zu erfüllen. Das erzeugt zusätzlichen Stress.

Wir sind der Wandel: Wie wirken sich soziale Medien und digitale Technologien auf die Psyche aus?

Kleinschmidt: Digitaler Stress hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Viele können nicht abschalten, weil sie ständig erreichbar sind. Auch die Arbeit selbst wird durch die Digitalisierung stressiger: Neue Abläufe und Programme erfordern Einarbeitung, oft ohne ausreichende Unterstützung. Die Digitalisierung ist ein großer, oft unterschätzter Stressfaktor.


Carola Kleinschmidt

Carola Kleinschmidt ist Diplombiologin, Autorin und zertifizierte Trainerin für Stressprävention. Zehn Sachbücher schrieb sie in den letzten 15 Jahren. „Bevor der Job krank macht“ wurde zum Bestseller der Burnout-Prävention. Ihre Leidenschaft sind innovative und interaktive Formate für Vorträge sowie  Selbstlernkurse rund um die Themen Stresskompetenz, Selbstfürsorge und persönliche Entwicklung für Firmen und individuelle Kund:innen.


Wir sind der Wandel: Welche Rolle spielen wirtschaftliche und politische Faktoren wie der Arbeitsmarkt, Unsicherheiten oder Krisen für die mentale Gesundheit?

Kleinschmidt: Menschen schöpfen Sinn und Wohlbefinden aus einem festen Platz in der Gemeinschaft. Ständige Veränderungen und Krisen erhöhen jedoch den Stress. Es verwundert nicht, dass sich viele aktuell angespannt und unsicher fühlen. Besonders Ältere, Eltern und Menschen mit Einschränkungen erleben zusätzlichen Druck, da der Arbeitsmarkt sie kritisch beäugt. Sie kämpfen oft, um ihr Potenzial einzubringen und einen sicheren und guten Arbeitsplatz zu finden. Gleichzeitig nimmt die Arbeitsverdichtung zu, die Digitalisierung fordert mehr Flexibilität  – das überfordert viele.

„Viele Führungskräfte bagatellisieren Stress und seine Folgen“

Wir sind der Wandel: Hat sich die Wahrnehmung psychischer Erkrankungen in den letzten 20 Jahren verändert, und sind sie weniger tabuisiert?

Kleinschmidt: Das Tabu um psychische Erkrankungen ist in Teilen der Gesellschaft kleiner geworden. Immer mehr Menschen sprechen mit Ärzt:innen über psychische Probleme, und Unternehmen bieten mehr Unterstützung. Doch in Führungskreisen gelten das Gefühl von Überforderung ebenso wie psychische Probleme oft noch als große Schwäche. Das führt dazu, dass viele Führungskräfte Stress und seine Folgen bagatellisieren.

Wir sind der Wandel: Was heißt das für Unternehmen?

Kleinschmidt: Der Arbeitsplatz spielt eine zentrale Rolle bei der Prävention und Stärkung der mentalen Gesundheit. Führungskräfte sollten psychische Erkrankungen erkennen und ansprechen können. Ein offenes Verhältnis zu Mitarbeitenden schafft Vertrauen. Regelmäßige Gespräche über Arbeitsbelastung und das Bekanntmachen externer Unterstützungsangebote wie pme familienservice oder das Fürstenberg Institut entlasten.


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Wir sind der Wandel: Welche Versorgung ist wichtig?

Kleinschmidt: Es gibt immer noch zu wenige Psychotherapeut:innen und niedrigschwellige Angebote. Doch in der Prävention und bei leichteren Beschwerden hat sich viel getan: Gesundheitsapps wie 7Mind und Balloon helfen, Stress vorzubeugen und die mentale Gesundheit zu stärken. Ihre Wirksamkeit ist gut belegt, deshalb übernehmen Krankenkassen sogar die Kosten.

“Viele kümmern sich erst um ihre mentale Gesundheit, wenn die Symptome stark sind.”

Wir sind der Wandel: Was müsste Ihrer Meinung nach geschehen, um die mentale Gesundheit in der Gesellschaft langfristig zu stärken?

Kleinschmidt: Viele kümmern sich erst um ihre mentale Gesundheit, wenn die Symptome stark sind: Der Schlaf ist so gestört, dass man tagsüber kaum noch Energie hat. Die Depression macht den Alltag zum täglichen Kampf. Wichtig ist, Frühwarnzeichen zu kennen und ernst zu nehmen. Gesundheitsaufklärung sollte daher schon in der Schule beginnen und auch in Studium und Ausbildung Platz finden.

Da Stress am Arbeitsplatz oft seelische Not auslöst – von Belastungssyndromen bis Burnout –, spielen Fähigkeiten für Stressmanagement und Prävention eine zentrale Rolle. Ich vergleiche die Situation Häufig mit den 1950er-Jahren, als erstmals klar wurde, dass eine gesündere Ernährung chronische Krankheiten vorbeugen kann. Heute haben wir in Sachen Ernährung fast alle ein Grundwissen. Wir wissen, dass Salat gesünder ist als Sahnetorte. Oder das Gemüse und Obst unverzichtbar sind. Beim Thema Stress stehen wir noch auf dem Niveau der Sahnetorte. Dabei können schon kleine Veränderungen den Stresspegel senken: regelmäßige Pausen, ein wertschätzender Umgangston am Arbeitsplatz und die Offenheit, Überlastung anzusprechen und gemeinsam Lösungen zu finden.

Für viele Beschäftigte reduziert auch Homeoffice den Stress. Anderen fehlen die Struktur und der Kontakt zu Kolleg:innen, was den Stress erhöht. Führungskräfte sind herausgefordert, einzuschätzen, wie es ihren Mitarbeitenden geht, obwohl man sich nur online trifft. Was hilft? Einige Teams treffen sich wieder regelmäßig persönlich. Auch online können Führungskräfte Räume schaffen, in denen man sich ohne berufliche Agenda begegnet. Eine offene Gesprächskultur ermöglicht es, auch remote über Überlastung oder mentale Schwierigkeiten zu sprechen. Dafür müssen Führungskräfte in diesen Themen geschult sein, um angemessen zu reagieren oder weitere Hilfen zu vermitteln.

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Sabine Hockling

Die Chefredakteurin Sabine Hockling hat WIR SIND DER WANDEL ins Leben gerufen. Die Wirtschaftsjournalistin und SPIEGEL-Bestsellerautorin beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit den Veränderungen unserer Arbeitswelt. Als Autorin, Herausgeberin und Ghostwriterin veröffentlicht sie regelmäßig Sachbücher – seit 2023 in dem von ihr gegründeten DIE RATGEBER VERLAG.