Eine Näherin stürzt auf dem Weg von ihrem Auto zur Werkhalle und bricht sich den Arm. Der Fall scheint eindeutig: ein Unfall auf dem Betriebsgelände während der Arbeitszeit. Doch vor Gericht wird daraus eine Grundsatzfrage: Wo endet der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, wo beginnt die private Verantwortung?
Die Klägerin arbeitete in Oranienburg als Näherin. Gegen 9.30 Uhr verlässt sie ihren Arbeitsplatz, um Tabletten aus ihrem Auto zu holen. Sie leidet an Epilepsie und nimmt regelmäßig Medikamente. Auf dem Rückweg stolpert sie und stützt. Die Verletzung steht außer Frage. Der Streitpunkt: War es ein Arbeitsunfall im Sinne des § 8 SGB VII?
Die Berufsgenossenschaft verneint das. Ihre Begründung: Die Frau habe den Arbeitsplatz aus rein privaten Gründen verlassen. Das Holen der Tabletten diene ihrer Gesundheit, nicht dem Betrieb. Damit entfalle der Versicherungsschutz.
Gesundheitspflicht oder Eigeninteresse?
Der Fall zeigt, wie schmal die Grenze zwischen beruflichem und privatem Handeln im Arbeitsalltag ist. Das Sozialgericht Neuruppin (Az. S 8 U 93/20) und das Landessozialgericht (Az. L 21 U 440/21) bestätigten die Sicht der Berufsgenossenschaft. Entscheidend sei nicht der Unfallort, sondern der Zweck der Handlung im Moment des Unfalls.
Die Richter:innen betonten: Medikamente einzunehmen oder zu holen gehört weder zu den arbeitsvertraglichen Pflichten noch zu den Nebenpflichten. Gesundheitserhalt und Medikamenteneinnahme seien Teil des privaten Lebens – auch wenn sie indirekt der Arbeitsunfähigkeit dienen.
Nur Handlungen, die direkt aus der beruflichen Tätigkeit resultieren, stehen unter Versicherungsschutz. Wer den Betrieb verlässt, um vergessene Medikamente, Einkäufe oder private Gegenstände zu holen, handelt eigenwirtschaftlich und trägt das Risiko selbst.
Medizinisches Risiko – juristisch ohne Gewicht
Medizinisch war das Verhalten der Klägerin nachvollziehbar. Ihr Arzt erklärte: Eine verspätete Einnahme erhöhe das Risiko epileptischer Anfälle deutlich. Doch das Gericht folgte dieser Argumentation nicht. Die Richter:innen stellten klar: Das Risiko mag real sein, ist aber nicht arbeitsbezogen. Selbst wenn ein Anfall während der Schicht drohte, überwiege das persönliche Interesse an der Gesunderhaltung. Der Arbeitgeber profitiere allenfalls indirekt.
Das Urteil folgte der Linie des Bundessozialgerichts: Nur wer betriebliche oder versicherte Wege zurücklegt, steht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Private Handlungen – selbst wenn sie der Arbeitsfähigkeit dienen – fallen nicht darunter.
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Die Lehre für Unternehmen und Beschäftigte
Der Fall der Näherin zeigt: Auch in Zeiten, in denen Arbeit und Privatleben immer mehr verschmelzen, bleibt die rechtliche Grenze klar. Gesundheit ist ein hohes Gut, doch im Arbeitsrecht bleibt sie Privatsache, solange keine betriebliche Notwendigkeit besteht.
Für Arbeitgeber schafft das Urteil Klarheit – und Verantwortung. Wer gesundheitsbewusstes Verhalten fördert, sollte deutlich machen, wo der Versicherungsschutz endet. Für Beschäftigte gilt: Auch sinnvolle, gesundheitsorientierte Entscheidungen können rechtlich privat sein. Wer während der Arbeit das Gelände verlässt, um Tabletten zu holen oder Arzttermine wahrzunehmen, handelt auf eigenes Risiko. Die gesetzliche Unfallversicherung schützt die Arbeit – nicht das Leben insgesamt.
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