BEM ist Chefsache: Ein Urteil des LAG Baden-Württemberg zeigt, dass Arbeitgeber die Verantwortung nicht abwälzen können – und verdeutlicht, wie eng Recht, Führung und Kultur zusammenhängen.
Ein Urteil des Landesarbeitsgerichts (LAG) Baden-Württemberg (Az. 15 SA 22/24) setzt neue Maßstäbe für krankheitsbedingte Kündigungen. Es stärkt die Rechte der Beschäftigten und betont: Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) ist kein formaler Akt, sondern ein Spiegel der Unternehmenskultur, Führungsverantwortung und Compliance.
Ein Mitarbeiter, fast zehn Jahre im Unternehmen, hatte wiederholt lange Fehlzeiten. Der Arbeitgeber beauftragte eine externen Dienstleister, das BEM zu organisieren. Das erste Gespräch sollte laut Einladung nur informieren, erfasste jedoch bereits persönliche Gesundheitsdaten und beendete das Verfahren faktisch. Wenige Monate später folgte die Kündigung. Das Gericht hob sie auf. Begründung: BEM war fehlerhaft eingeleitet und durchgeführt. Die Fehler des Dienstleisters muss sich der Arbeitgeber anrechnen lassen.
Die juristische Klarheit
Das LAG formulierte Grundsätze, die über den Einzelfall hinausweisen:
- Verantwortung bleibt beim Arbeitgeber:
Auch bei Beauftragung eines externen Anbieters trägt der Arbeitgeber die Verantwortung für das Verfahren – organisatorisch, datenschutzrechtlich und kommunikativ. - Transparenz ist Pflicht:
Beschäftigte müssen vorab wissen, welche Daten erhoben werden, wer darauf zugreift und wofür sie genutzt werden. Ohne diese Aufklärung ist das BEM unzulässig – selbst bei einem Gespräch. - Struktur ist entscheidend:
Ein zweistufiges Verfahren – Informationsgespräch und BEM-Gespräch – ist erlaubt. Doch die Grenzen müssen klar bleiben. Wird ein Informationsgespräch wie ein vollständiges BEM geführt, verliert das Verfahren an Glaubwürdigkeit. Genau das geschah hier. - Vertrauen ist zentral:
Der Mitarbeiter durfte nach dem Gespräch annehmen, dass keine Kündigung drohe. Diese falsche Sicherheit wertete das Gericht als schweren Verfahrensfehler. Wer Vertrauen aufbaut, darf es nicht brechen.
Was das Urteil bedeutet
Das Urteil ist mehr als ein Rechtsfall – es mahnt Führungskräfte, Verantwortung ernst zu nehmen. BEM ist kein Anhängsel des Kündigungsschutzes, sondern ein strategisches Führungsinstrument. Es zeigt, ob ein Unternehmen Gesundheit, Respekt und Teilhabe wirklich lebt.
Richtig umgesetzt, kann BEM Fehlzeiten senken, Motivation stärken und Know-how sichern. Doch das erfordert Haltung: Zuhören statt abarbeiten. Begleiten statt verwalten. Vertrauen statt Misstrauen.
Führung zwischen Pflicht und Haltung
In Zeiten von Transformation und Fachkräftemangel wird BEM zum Lackmustest moderner Führung. Wer Mitarbeitende nach längerer Krankheit ernsthaft zurückführen will, handelt nicht aus juristischer Vorsicht, sondern aus unternehmerischer Weitsicht.
– Ein BEM, das nur pro forma läuft, signalisiert: „Wir müssen das tun.“
– Ein BEM, das partnerschaftlich gestaltet ist, sagt: „Du bist uns wichtig.“
So wird die rechtliche Pflicht zum Ausdruck gelebter Unternehmenskultur – und diese entscheidet, ob Mitarbeitende bleiben oder gehen.
- Schutz vor Krankheiten: Wie weit dürfen Arbeitgeber gehen?
- Bürohunde senken das Krankheitsrisiko
- Die Einsamkeitsepidemie am Arbeitsplatz: Eine unterschätzte Gefahr für Unternehmen
Externe Dienstleister: Entlastung mit Risiko
Immer mehr Unternehmen lagern das BEM an spezialisierte Anbieter aus. Das kann sinnvoll sein – etwa für Datenschutz, Neutralität und Qualität. Doch das Urteil zeigt die Risiken: Wer delegiert, bleibt verantwortlich.
Die Zusammenarbeit mit Dienstleistern erfordert klare Verträge, regelmäßige Kontrolle und Schulungen. Unternehmen müssen sicherstellen, dass externe Partner:innen dieselben Standards einhalten wie das eigene Haus. Andernfalls drohen nicht nur verlorene Prozesse, sondern auch Schäden an der Arbeitgebermarke.
Compliance beginnt im Alltag
Das Urteil zeigt eine größere Wahrheit: Rechtskonformität entsteht nicht in der Rechtsabteilung, sondern im Alltag. Sie lebt von achtsamer Kommunikation, transparenten Prozessen und fairer Behandlung der Mitarbeitenden.
Das BEM wirkt dabei wie ein Brennglas. Es zeigt, wie Unternehmen mit Schwächen umgehen – ob sie Menschen als Risiko oder Ressource sehen. Und es offenbart, ob die Werte aus Leitbildern auch in Krisen gelten. Das Gericht hat die Kündigung aufgehoben – und zugleich Standards gesetzt: für Klarheit, Verantwortung und Menschlichkeit.
Wir übernehmen keine Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit der über uns verbreiteten Rechtsinhalte. Insbesondere ersetzten die Beiträge grundsätzlich nicht eine fachkundige Rechtsberatung.

