Aus politischen, vor allem aber auch aus Umweltgründen wird es schwieriger, Handelsexporte zwischen China, der Europäischen Union und den USA zu betreiben. Wie deutsche Unternehmen darauf reagieren sollten, weiß Managementvordenker Hermann Simon.
Hermann Simon, Gründer und Honorary Chairman von Simon-Kucher & Partners, ist ein international gefragter Berater und Referent. Als erster Deutscher ist er in die “Thinkers50 Hall of Fame” der weltweit wichtigsten Managementdenker aufgenommen worden. In China wurde die Hermann Simon Business School nach ihm benannt, die sich insbesondere dem von ihm entwickelten Hidden-Champions-Konzept widmet. Sein Buch Hidden Champions – Die neuen Spielregeln im chinesischen Jahrhundert ist aktuell im Campus Verlag erschienen.
Führung ist in Zeiten des Wandels eine Herausforderung. Wie gute Führung gelingen kann und welche Herausforderungen Führungskräfte bewältigen müssen, darüber spricht Sabine Hockling in der Serie CHEFSACHE.
Wir sind der Wandel: Warum gibt es so viele Hidden Champions in Deutschland?
Hermann Simon: Dafür gibt es vielfältige Ursachen. Anders als beispielsweise Frankreich, Japan oder die USA war Deutschland bis 1918 kein Nationalstaat. Es existierten 23 Monarchien und drei Republiken, quasi selbstständige Staaten. Wer mit seinem Unternehmen in München ansässig war und seine Waren nach Stuttgart verkaufte, tätigte aus dem Königreich Bayern ein internationales Geschäft mit dem Königreich Württemberg. Das ist in die DNA deutscher Unternehmer übergegangen. Dementsprechend internationalisieren kleinere deutsche Unternehmen viel schneller als beispielsweise amerikanische, japanische oder französische Unternehmen.
Eine weitere historisch begründete Ursache für die große Anzahl von Hidden Champions in Deutschland waren die in den verschiedenen Regionen existierenden Kompetenzen, die sich mittlerweile auf neue Wachstumsbrachen übertragen haben: Im Schwarzwald waren seit Jahrhunderten Uhrmacher mit ihren anspruchsvollen feinmechanischen Kompetenzen angesiedelt – woraus später die Industrie der Medizintechnik entstand. In Tuttlingen beispielsweise sind mittlerweile mehr als 500 Medizintechnikunternehmen beheimatet. Das, was wir heute in Stanford sehen, wo Forschungsergebnisse in Produkte umgesetzt werden, gab es genauso in Deutschland. Dadurch, dass beispielsweise die mathematische Fakultät von Göttingen über Jahrhunderte führend war, entstanden in dieser Region vor allem Unternehmen aus der Messtechnik. Dass sich in diesen Regionen das Know-how auf moderne Branchen übertragen ließ, liegt allerdings auch an unserem weltweit einmaligen dualen Berufsbildungssystem.
Und nicht zuletzt ist unsere geozentrale Lage strategisch vorteilhaft: Aus Deutschland sind wir in 11 Stunden in Tokio und in 11 Stunden in San Francisco. Wer hingegen in New York, Singapur oder Neu-Delhi ansässig ist, braucht von dort gut 20 Stunden in die USA bzw. nach Asien. Afrika liegt auf der gleichen Zeitzone wie wir. Dass viele Länder von uns aus innerhalb normaler Bürozeiten erreichbar sind, ist ein ungeheurer Vorteil. Weit ist es für uns nur nach Australien oder Süd-Amerika.
Wir sind der Wandel: Wie steht es heute um die Hidden Champions?
Simon: Insgesamt sieht es gut aus. Fraglich ist jedoch, ob das so bleibt, denn viele Hidden Champions sind in den sogenannten Sunset-Industrien beheimatet. Ob ein Betrieb, der beispielsweise mit seinen Produkten Zulieferer für die Verbrenner-Technologie ist, langfristig erfolgreich bleibt, ist zweifelhaft.
Ferner verschärft sich der Wettbewerb durch China – meiner Meinung nach die stärkste Konkurrenz für deutsche Unternehmen. China hat seit 20 Jahren eine starke Wirtschaftskraft, allerdings in Bereichen, die für Deutschland nicht relevant sind. Nämlich bei billigen Konsumgütern und Massenprodukten, die aufgrund der günstigen Produktion enorm preiswert angeboten werden. In diesen Märkten agieren deutsche Unternehmen kaum, sie sind dementsprechend nicht betroffen. In den letzten fünf bis zehn Jahren aber holte China technisch massiv auf und ist mittlerweile die Nummer eins bei internationalen Patenten. Zum Vergleich, im Jahr 2000 war China noch nicht einmal unter den ersten zehn. In Bereichen wie der künstlichen Intelligenz oder der Eisenbahntechnologie sind sie mittlerweile gar führend.
“Die Chinesen haben enorm aufgeholt”
Wir sind der Wandel: Was ist die Ursache dafür, dass die Chinesen in so kurzer Zeit so schnell aufgeholt haben?
Simon: Der wichtigste Grund ist, sie haben innerhalb eines politisch kommunistischen sozialistischen Systems die Marktwirtschaft zugelassen. Dabei kommen diese großen Fortschritte überwiegend von privaten Firmen und weniger von den Staatsfirmen Chinas. Auch sind die Chinesen fleißig, arbeiten sehr hart und studieren im Ausland, um mit der besten Ausbildung und dem besten Know-how zurückzukehren. Das alles hat dazu geführt, dass sie enorm aufgeholt haben.
Deutlich wird das, wenn man beispielsweise die Eisenbahnnetze vergleicht: Das deutsche Netz entstand überwiegend um 1870. Wir mischen zudem den Personennah- und -fernverkehr mit dem Güterverkehr. Die Chinesen hingegen haben mit ihren 12.000 Kilometern Hochgeschwindigkeitsbahn ein völlig neues Netz geschaffen – was mit ihrem autoritären System durchsetzbar war. So, wie seinerzeit der deutsche Kaiser einfach entschied, dass der Kölner Hauptbahnhof neben dem Kölner Dom entstehen soll. Dafür wurden riesige Schneisen in die Stadt geschlagen. So etwas wäre heute in Deutschland nicht mehr umsetzbar. Ganz im Gegenteil, solche Bauvorhaben dauern in Deutschland enorm lange – wenn sie überhaupt umsetzbar sind und nicht von Vorschriften oder Protesten vorab gestoppt werden.
Wir sind der Wandel: Was hat ein chinesischer, was einem deutschen Unternehmer fehlt?
Simon: Die Chinesen sind schneller, was an ihren mentalen Einstellungen liegt. Das heißt, ein typischer chinesischer Unternehmer ist weniger risikoscheu. Zum einen stellt unsere Bürokratie eine Hürde dar, zum anderen liegt das an unserem demokratischen System. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass China im Bereich der künstlichen Intelligenz führend ist. Über die dafür benötigten großen Datenmengen verfügt China aufgrund seiner Größe. Und auch die Hürde Datenschutz spielt in China keine große Rolle. In Deutschland hingegen engt der Datenschutz Unternehmen förmlich wie einen Panzer ein. In dieser übertriebenen Form, wie sie bei uns praktiziert wird, halte ich den Datenschutz für eine echte Innovationsbarriere. Das führt nämlich unter anderem dazu, dass deutsche Unternehmen ihr Kompetenzcenter für KI in China und nicht in Deutschland einrichten. So liegt das Know-how in China, auch wenn es einem deutschen Unternehmen gehört.
Beim Bergbau siedeln deutsche Unternehmen ihre Kompetenzcentren sowie die gesamte Wertschöpfungskette mittlerweile in China an: Die Firma Schenck aus Darmstadt beispielsweise stellt Messtechnik für die Bergbaubranche her; oder Scharf aus Hamm, ein auf Transportsysteme für den Bergbau spezialisiertes Unternehmen. Beide haben in Deutschland keine Kunden mehr. Fehlen im Heimatmarkt diese, macht man nicht nur kein Geschäft, man bleibt auch nicht führend. Deshalb muss das Kompetenzcentrum dorthin verlegt werden, wo die Kunden sind. Und das ist im Bergbau China.
Und auch durch die Innovationsfreudigkeit der chinesischen Verbraucher haben chinesische Unternehmen einen enormen Vorteil. Weil deutsche Verbraucher diesbezüglich sehr zurückhaltend sind, sollten deutsche Unternehmen, die eine digitale Neuerung ausprobieren möchten, für ein schnelles Feedback nach China gehen.
“Zukünftig werden Exporte zunehmend durch Direktinvestitionen ersetzt”
Wir sind der Wandel: Wie können Hidden Champions angesichts der wachsenden Wirtschaftsmacht Chinas erfolgreich in die Zukunft aufbrechen?
Simon: Verschiedene Einflüsse der Globalisierung zwingen deutsche Unternehmen dazu, es zukünftig anders zu machen: Von 1990 bis 2010 hatten wir eine Phase, die man als Hyper-Globalisierung bezeichnet. Während dieser zwei Jahrzehnte sind die globalen Exporte knapp doppelt so schnell gewachsen wie die globalen Bruttoinlandsprodukte. Die Handelselastizität, das Verhältnis der beiden Wachstumsraten, lag in diesem Zeitraum bei etwa 1,5 bis 2. Seit 2010, im Nachgang zur Finanzkrise, haben wir ein unterproportionales Wachstum, seit 2014 beträgt eine Handelselastizität nur noch 0,6 – das war übrigens lange vor Donald Trump. Dieser Trend wird sich fortsetzen. Das heißt, zukünftig werden Exporte zunehmend durch Direktinvestitionen ersetzt. Ein weiterer Teil dieses Trends ist, dass wir eine Dematerialisierung der Exporte erleben. Digitalisierungs- und Dienstleistungsexporte wachsen nach wie vor stärker als die Bruttoinlandsprodukte.
Mit Techniken wie dem 3-D-Druck beispielsweise können Daten zwar in Deutschland liegen, die Produktion hingegen findet dort statt, wo der 3-D-Drucker steht. Denkt man das einen Schritt weiter, werden Unternehmen Aktivitäten zukünftig an den Standort verlegen, wo diese am besten – das heißt, am günstigsten und mit der besten Qualität – erledigt werden können. Wer also im globalen Wettbewerb erfolgreich sein möchte, muss für jede Tätigkeit den besten Standort finden. Das heißt: Die Deutschen müssen zu Chinesen werden und dort das produzieren, was man in China am besten produzieren kann – und umgekehrt gilt das für die Chinesen genauso. Bei KI zum Beispiel ist das China und beim Automobildesign Deutschland.
Wir sind der Wandel: Betrifft das nur den Handel mit China?
Simon: Es wird aus politischen, vor allem aber auch aus Umweltgründen schwieriger, Handelsexporte zwischen den großen Regionen China, Europäische Union und den USA zu betreiben. Das bedeutet, dass man die gesamte Wertschöpfungskette bis hin zum Headquarter in diese Regionen verlegen muss. Wilo, ein Hidden Champion im Hightech-Pumpenbereich, richtete drei Headquarter ein: den Stammsitz in Dortmund, ein Headquarter in den USA und eines in China. Diese Holdinggesellschaften haben zwar dieselben Partner, sind rechtlich allerdings unabhängig. Damit immunisiert ein Unternehmen sich gegen Eingriffe, die den Handel zwischen verschiedenen Ländern betreffen. Denn niemand kann sagen, wie es weitergeht mit dem Konflikt zwischen China und den USA. Ein Headquarter in dem jeweiligen Land ist also eine Art Vorsichtsmaßnahme, denn so wird man zum Inländer und ist weniger von den politischen Restriktionen betroffen. Und weil es für deutsche Unternehmen mit China leichter war als im harten Wettbewerb mit den Amerikanern, stehen sie in Amerika aktuell schlechter da als in China.
“Enorm wichtig wird die Internationalisierung des Managements und der Belegschaft”
Wir sind der Wandel: Welche Weichen müssen Unternehmen jetzt für die nächsten zehn Jahre stellen?
Simon: Enorm wichtig wird die Internationalisierung des Managements und der Belegschaft, denn in zehn Jahren besteht die wirtschaftliche Erste Liga aus den drei Regionen EU, USA und China. Das mit Abstand stärkste Wachstum wird in China stattfinden. Betrachtet man das Pro-Kopf-Einkommen und nicht die Gesamtsumme des Bruttoinlandsproduktes, hat China einen unglaublichen Aufholbedarf und ein enormes Wachstumspotential. Allerdings wird auch der amerikanische Markt weiter wachsen, wahrscheinlich sogar stärker als der europäische. Ferner werden die USA auf vielen Gebieten (zum Beispiel Chips, Aerospace) führend bleiben. Dem müssen sich deutsche Unternehmen jetzt stellen.
Aktuell berate ich ein Unternehmen aus Norddeutschland , das bereits sowohl in China als auch in den USA produziert. Der Vorstand diskutiert nun darüber, wo die nächsten großen Investitionen getätigt werden sollen. Und ist bei dieser Frage gespalten: Die einen wollen in Deutschland investieren, die anderen stärker in China und den USA. Meine Empfehlung ist hier ganz klar, den Schwerpunkt auf China und die USA zu legen, da es die größten Märkte der Zukunft sind. Dementsprechend muss das norddeutsche Unternehmen in diesen Märken präsent sein – und den Wandel hin zum globalen Unternehmen vollziehen.