Digitalisierung vom Ergebnis her denken

Schriftzug trust your struggle auf Backsteinwand

Unsere Zukunft wird weniger mit Arbeit im klassischen Sinne zu tun haben. Dementsprechend ist es wichtig, die nächsten Schritte der Digitalisierung von möglichen Zielzuständen her zu denken – und nicht nur Ökonomen die Entscheidungen zu überlassen.

Ein Gastbeitrag von Ayad Al-Ani

Berichte über die Zukunft der Arbeit sind ubiquitär, fast schon beliebig. Auch schwebt über diesem Thema oft ein imaginäres Damoklesschwert: Ist die Zukunft der Menschheit tatsächlich mit Arbeit verbunden, so wie wir sie kennen? Oder vielmehr: Ist es das dominante Ziel der Menschheit, fremdbestimmt zu arbeiten?

Betrachtet man die Ideen der Technologen im Bereich der Künstlichen Intelligenz oder blickt man zurück auf Gedanken von John Maynard Keynes oder noch weiter auf Karl Marx, dann kommt man zu dem Schluss, dass dem nicht so sein muss; zumindest nicht die Arbeit nach unserem heutigen Verständnis: fremdbestimmt und für die allermeisten Menschen nicht wirklich befriedigend.

Die Menschheit, so der Roboterwissenschaftler Hans Moravec mit einem Augenzwinkern, muss sich ihre Humanität woanders suchen. Wenn dem so ist, müsste man diese Zielzustände bzw. Szenarien verstehen, diskutieren, verwerfen, verändern und die Zwischenschritte dorthin designen, wenn dies geht. Diese Szenarien aber sind offenkundig noch nicht Teil eines Diskurses in Wissenschaft und Politik – auch wenn die Corona-Pandemie einiges verändert. Anregungen findet man eher noch in der Science-Fiction-Literatur, die vielleicht aus diesem Grund nun ehrbar und immer öfter in den Diskurs integriert wird.

Wie dem auch sei, es beschleicht einem immer stärker das Gefühl, dass es mit agilem Management und Grundeinkommen allein wohl nicht getan sein wird. Und jenseits einer solchen aufkommenden, noch holzschnittartigen Diskussion, greifen so auch diffuse Ängste um sich, wie stets, wenn Dinge zwar leidlich unklar sind, aber jeder ahnt, dass der gegenwärtige Zustand kurz vor der Kippe steht. Man könnte sogar das Aufkommen von AfD, FPÖ und ähnlichen Gruppierungen als verkappte „No-Future“-Bewegungen begreifen, die mit Mauern vergeblich einen Zustand konservieren wollen, dessen Ende sich abzeichnet.

Bereits Marx sah die Digitalisierung vorher

Betrachtet man die Zielsetzung der Technologieentwicklung – vor allem die der Künstlichen Intelligenz/Artificial Intelligence und Robotik –, so wird klar, dass diese immer das Ziel hatte, Menschen zu ersetzen. Der Grund hierfür war historisch gesehen die Sorge vor dem potentiell widerständigen Individuum, das in der Phase nach dem 2. Weltkrieg auch in den USA verstärkt begann, sich politisch zu organisieren. Das führte längerfristig zu einer stetigen Erhöhung der Inputkosten (Löhne!), bis zu dem Punkt, an dem der Kapitalismus für den Kapitalisten uninteressant wird, wie der Historiker Immanuel Wallerstein süffisant anmerkte.

Zwar gab es mit Intelligence Augmentation (IA) eine Denkschule, die Maschinen zu Unterstützern des Menschen erschaffen wollte. Letztendlich setzte sich aber die Sichtweise der Künstlichen Intelligenz (Artificial Intelligence = AI), die den Menschen substituieren will, durch. Und wenn es heute viele Anwendungen der IA gibt, dann liegt das daran, dass AI noch nicht so weit ist (der Chauffeur fährt so lange mit dem Navigationssystem, bis das Auto selbst fahren kann). Und überhaupt, wenn Unternehmen menschliche Entscheidungen zu einem Preis ersetzen können, der bei einem Drittel des chinesischen Wanderarbeiters liegt, dann wird klar, was passieren wird – was übrigens von Marx vorhergesehen wurde. In einer kurzen Ausführung, auch Maschinenfragment genannt, räsonierte er merkwürdig aktuell, dass der Wissensfortschritt der Gesellschaft, der General Intellect, irgendwann dazu führen wird, dass der Arbeitsaufwand für den Einzelnen zurückgeht; und Kapital in der Maschine akkumuliert wird, die die Arbeit ausführt. Das System der Maschinen – man muss hier unwillkürlich an das Industrie 4.0-Konzept denken – wird zum „Automaton“.

In diesem Konstrukt haben Arbeiter mehr verfügbare Zeit und so das Potential, sich von der Arbeit zu emanzipieren, im Prinzip. Marx sah natürlich die digitale Ökonomie mit ihren Technologien nicht im Detail voraus. Er ahnte aber, dass der fortschrittliche Kapitalismus, weniger kapitalistisch sein wird: Vorhang auf für Konzepte wie Shared Economy, Open Educational Resources, Open Source Code, Peer-to-Peer-Produktion etc. Allerdings – und hier wird es wirklich prophetisch – erkannte er auch, dass der Kapitalismus diesen „Auszug“ der Arbeitenden nicht ohne weiteres erlauben wird. Mehrwert wird für Marx schließlich noch immer vom Menschen erzeugt.

Über virtuelle Plattformen, Innovation Hubs und FabLabs werden die „entlaufenen“ ProgrammiererInnen und DesignerInnen zurückgeholt, deren Arbeit monetarisiert, wenn sie vorher unentgeltlich war (Open Source). Der Cognitive Surplus – jene gigantische Masse an Talenten und Motivationen – die der Bildungssektor zwar erzeugte, die die arbeitsteilige Hierarchie aber nicht nutzte (selbst in Wikipedia floss bis jetzt auch nicht mehr Zeit, als US-AmerikanerInnen an einem Wochenende mit Werbefernsehen konsumieren), muss wieder verwertbar gemacht werden. Und so machen heute große IT-Firmen einen gewichtigen Teil ihres Umsatzes mit Beratungsleistungen zu Open Source-Produkten, die die Crowd unbezahlt entwickelt hat.

Angst vor sozialen Verschiebungen

Der Kapitalismus sorgt dafür, dass sich „der Arbeiter“ nicht selbst konstituieren kann: Eine Fahrergenossenschaft bekommt auf dem Kapitalmarkt kein Geld, Uber als AG schon. Ein weiteres Phänomen in diesem Kontext ist der insgesamt seltsam geringe Arbeitsplatzverlust durch die Automatisierung, der so die Hoffnung nährt, dass es auch diesmal nicht so schlimm wird und es nur zu einer Umverteilung von Jobs kommen wird – da man mit mehr Bildung die Sachen in den Griff bekommen kann. Interessanterweise sind einige dieser Wachstumsberufe, die sogenannten Bullshit-Jobs wie Firmenanwälte, Lobbyisten, Berater, Regulatoren usw., die nicht wertschöpfend sind, erstaunlicherweise besser bezahlt als gesellschaftlich benötigte Jobs wie Lehrer oder Pfleger.

Erklären kann sich David Graeber, Namensgeber dieser Berufsgruppe, nicht, wieso eine auf Effizienz ausgerichtete Wirtschaft hunderttausende derartiger Jobs schaffen konnte. Marx hingegen hätte hier eine Antwort: das System verdient trotzdem Geld mit diesen Jobs. Obwohl deren Gebrauchswert für die Gesellschaft gering ist und den Inhabern durchaus klar ist, dass sie Dinge tun, die unbefriedigend sind. Zudem haben Bullshit-Jobs einen stabilisierenden Effekt, da viele kluge Leute ihre Zeit nicht dazu verwenden, neue, effektivere und befriedigendere Arbeiten nachzugehen, oder gar das System als solches verändern zu wollen.

Man sollte also nicht unterschätzen, wie die Beharrungskräfte bzw. der Erfindungsreichtum des Kapitalismus artfremde Arbeit reintegrieren und monetarisieren. Warum aber dieses Bestreben, die Arbeiter unbedingt in der Fabrik zu halten, wenn es doch dort über kurz oder lang weniger zu tun gibt? Ein Grund ist die Angst vor den sozialen Verschiebungen, die entsteht, wenn Menschen die Möglichkeit haben, sich zu emanzipieren, zu einem autonomen Individuum im Sinne des Humboldtschen Ideals zu werden. Wenn, um mit Marx zu sprechen, die Möglichkeit besteht, „heute dies und morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu betreiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirte oder Kritiker zu werden“. Der geläufige Diskurs scheint solche Visionen nur schwer zu ertragen. Oder, wie es die frühere Arbeitsministerin einmal unglücklich formulierte: Würde man dann nicht zwangsweise in die Situation kommen, „dass keiner mehr schlechte oder niedrig bezahlte Arbeit machen möchte“?

Die großen Geister der Wirtschaftswissenschaft machten sich hierzu durchaus Gedanken: Maynard Keynes etwa stellte 1930 ausgerechnet im krisengeschütteltem Madrid, am Vorabend des Bürgerkrieges, seinen Aufsatz Economic Possibilities of our Grandchildren vor. Wenig überraschend wendete er sich bei der Beantwortung dieser Frage Themen wie Freizeit, Erziehung, Ethik und Kultur zu. Bereiche also, die nicht im Kern ökonomischer Diskurse lagen und dem spanischen Publikum der 1930er-Jahre seltsam vorgekommen sein müssen. Auch machte er nebenbei auf einen interessanten Aspekt aufmerksam: Wenn die Zukunft weniger mit Arbeit im klassischen Sinne zu tun hat, dann sind Ökonomen vielleicht auch nicht die Richtigen, dieses Thema zu adressieren.

Arbeit in der Roboterfabrik

Nun ist es aber nicht so, dass keine Ideen zu einer technisierten Gesellschaft existieren würden. Die Vision etwa von Hans Moravec, bereits im letzten Jahrtausend entwickelt, haben ihre Aktualität nicht verloren: Arbeit wird hier überwiegend in Roboterfabriken stattfinden, die auch von Robotern geleitet werden. Diese Robobosse benötigen kein Gehalt und befinden sich im Wettbewerb mit anderen Roboterfabriken und -bossen. Ihr Ziel ist nicht Profitmaximierung, sondern das Überleben ihrer Fabrik. Roboterfabriken zahlen Steuern in Communities, in denen sich Menschen zusammengefunden haben, die sehr ähnliche Leidenschaft und Interessen haben (Tribes). Moravec nennt hier als aktuelle Beispiele die Schweiz mit ihren autonomen Kantonen sowie die reichen Golfländer: Dort nämlich würden heute schon asiatische Sklavenarbeiter als ölfinanziertes Robotersurrogat Leistungen erbringen, die es einer Bevölkerung ermöglicht, so zu leben, wie sie will. Mit einem Grundeinkommen ausgestattet, würden die Mitglieder der Tribes an Dingen arbeiten, die sie interessieren, sie würden sich aber auch mit Kultur, Politik, Religion und Freundschaften beschäftigen.

Die spannende Frage scheint zu sein, wie ein solches Szenario erreichbar wird: Wie kommen wir von den entstehenden globalen Plattformgiganten zu solchen Tribes? Offenbar auch über die Emanzipation der Maschinen vom Menschen (Singularity). Indem die Maschinen autonomer werden, nichts für ihre Leistungen verlangen, kann sich auch der Mensch emanzipieren. Wenn es ihm zuvor gelingt, diesen Maschinen eine ethische Programmierung mitzugeben. Muss dies so passieren? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Jedoch erkennt man, wie wichtig es ist, die nächsten Schritte der Digitalisierung vom Ziel her zu denken – und hier unterschiedliche Möglichkeiten einzubeziehen.

 

Ayad Al-Ani
Prof. Dr. Dr. Ayad Al-Ani lehrt als außerordentlicher Professor u. a. an der südafrikanischen Universität Stellenbosch. Außerdem ist er assoziiertes Mitglied am Einstein Center Digital Future. Al-Ani ist Lehrbeauftragter für Digitale Kultur an der Universität Basel und war von 2017 bis 2018 Gastprofessor an der Fernuniversität in Hagen

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