Emotionen sind derzeit in aller Munde. Überall wird mit ihnen gearbeitet: Werbung, Verkauf, selbst die Politik hat die Emotionen für sich entdeckt. Doch wenn es um unsere eigenen Gefühle geht, sind wir Analphabeten.
Es scheint paradox zu sein. Einerseits wird gepredigt, dass Emotionen wichtig sind und Menschen sich durch Emotionen besser überzeugen lassen als durch rationale Argumente. Andererseits lernen wir nichts über den Umgang mit den eigenen Gefühlen. Emotionale Kompetenz wird von unserer Standard-Ausbildung ignoriert. Wir lernen Lesen, Schreiben und Rechnen, logisch zu denken und Probleme zu lösen. Intelligenz wird belohnt und wertgeschätzt. Aber Gefühle?
Unsere emotionale „Ausbildung“ erfolgt allein durch gesellschaftliche Konditionierung. Wir übernehmen in jungen Jahren was sozial als schicklich und angemessen gilt und was wir in unserer Familie beobachten. Wir ziehen unsere Schlüsse aus schmerzlichen Erfahrungen, die wir mit unseren Gefühlen oder den Gefühlen anderer gemacht haben.
Dieses unausgesprochene Paradigma lässt sich wie folgt zusammenfassen: Gefühle sind Privatsache. Sie öffentlich zu zeigen, gilt als unprofessionell (außer im Fußballstadion). Gefühle machen uns schwach und manipulierbar. Sie sind kindisch, irrational, launisch und nicht vertrauenswürdig. Erwachsen sein heißt, sich und seine Gefühle im Griff zu haben. Diese kollektive Prägung spiegelt sich auch in unserer Sprache wider: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“, „Männer weinen nicht“, „Heulsuse“, „Angsthase“, „Wer schreit hat Unrecht“, „Angst ist ein schlechter Berater“ – um nur einige bekannte Redensarten zu nennen. Das ist die Lektion, die wir über Gefühle gelernt haben.
Gefühls-Taubheit als kollektives Phänomen
Diese Prägung führt dazu, dass wir sehr früh lernen, Gefühle zu unterdrücken – allerdings verschwinden sie dadurch nicht. Denn Gefühle sind kein Designfehler der Schöpfung, sondern ein wichtiger Bestandteil des Menschseins. Also betäuben wir unsere Gefühle zusätzlich, um zu funktionieren.
Unsere Kultur unterstützt uns dabei tatkräftig mit allerlei „Betäubungsmitteln“. Wir stürzen uns in Arbeit, futtern Gefühle mit Süßkram weg, lassen uns vom Fernseher oder Radio durchgehend beschallen oder lenken uns mit Internet, Computerspielen oder Social Media ab. Manche versuchen auch, mit positivem Denken oder Meditation ihren Gefühlen zu entkommen. Im schlimmsten Falle hilft auch ein Gläschen Alkohol oder eine Zigarette. Unser Umgang mit Gefühlen kann sich auf diese Weise aber nicht weiterentwickeln und bleibt in den Kinderschuhen stecken. Wir verbannen unsere Gefühlswelt ins Unbewusste.
Unbewusstheit macht manipulierbar
Dort liegen sie dann, unsere Gefühle, und gären vor sich hin – unbewusst und dennoch vorhanden und voll wirksam. Und vor allem: voll zugänglich für Manipulationsversuche von außen. Die anfänglich erwähnte Paradoxie ist in Wirklichkeit gar kein Widerspruch. Dass Werbung, Verkauf, Medien und Politik Emotionen wirksam nutzen können, liegt genau darin begründet, dass wir Gefühle unbewusst ausleben. Denn solange wir unbewusst fühlen, sind wir leichtes Opfer für emotionale Manipulation. Auf die richtige Weise angesprochen, motivieren unsere unbewussten Gefühle uns dazu, Produkte zu kaufen, uns einer Meinung anzuschließen oder eine Partei zu wählen. Wir reagieren aus unbewussten Gefühlsprogrammen heraus, ohne eine echte Wahl zu haben. Wie praktisch für die Wirtschaft und die Politik!
Das Zauberwort heißt Bewusstheit. Denn wo Bewusstheit herrscht, hat Manipulation keine Chance. Neben der emotionalen Manipulation von außen gibt es noch weitere negative Auswirkungen unserer Unbewusstheit. Unterdrückte Gefühle können sich in körperlichen Symptomen, wie Bluthochdruck, Verdauungsbeschwerden oder nächtlichem Zähneknirschen Ausdruck verleihen. Der unbewusste Umgang mit Gefühlen belastet oft unsere Beziehungen. Aber auch bei psychischen Symptomen, wie Angstattacken, Depressionen oder Burnout spielen unterdrückte Emotionen oft eine Rolle.
Gefühle sind eine nützliche menschliche Ressource
Was fehlt, ist eine Ausbildung im Umgang mit Gefühlen. Doch solange wir die Geschichte glauben, dass Gefühle unprofessionell sind, gibt es nur wenig Motivation, um sich mit dem Thema zu befassen. Ausgangspunkt muss also ein neues Paradigma in Bezug auf Gefühle sein. Gefühle sind eine nützliche menschliche Ressource. Wenn wir lernen, sie bewusst zu fühlen und verantwortlich mit ihnen umzugehen, dienen Gefühle uns als Navigationssystem und Kraftquelle. Sie geben uns nützliche Informationen und Handlungsimpulse. Sie versorgen uns mit Motivation und Kraft, Dinge in Bewegung zu bringen und auch andere davon zu begeistern. Gefühle machen uns menschlich, verbinden uns und lassen uns mitfühlen – um nur einige Aspekte zu nennen.
Ausgehend von diesem neuen Paradigma gilt es, die Gefühlswelt aus dem Exil des Unbewussten zu befreien und wieder einen bewussten Zugang zu dieser Ressource zu schaffen. Dazu gehört auch, dass wir uns emotionaler Konditionierungen gewahr werden und dafür sorgen, dass emotionale Verletzungen aus der Vergangenheit, heilen können. Gleichzeitig können wir einen erwachsenen Umgang mit Gefühlen erlernen: Was fühle ich gerade? Welche Information gibt mir dieses Gefühl? Wozu kann ich diese Information und Kraft nutzen? Denn gemäß dem neuen Paradigma bedeutet Erwachsen sein nicht, sich und seine Gefühle im Griff zu haben – im Sinne von „Indianer weinen stumm“. Es bedeutet stattdessen, sich seiner Gefühle bewusst zu sein und sie verantwortlich für das eigene Leben zu nutzen, egal ob im privaten oder im beruflichen Bereich.
Patrizia Patz begleitet als Trainerin und Coach seit über siebzehn Jahren Menschen und Organisationen über die Grenzen ihrer Konditionierung hinaus zu mehr Möglichkeiten und authentischer Lebendigkeit. Sie ist Expertin für die Verbindung von Emotion und Ratio, sodass ihre Kunden neben wirksamen Lösungen auch die Kraft ihrer Gefühle zurückgewinnen. Ihr Buch Gefühle: Emotional gesund in einer rationalen Welt ist im Business Village Verlag erschienen.