Pionierin für die Gleichstellung der Geschlechter in den Medien

Die Journalistin Marlies Hesse im Jahr 2021

Die Journalistin und Frauenrechtlerin Marlies Hesse ist am 19. Februar 2024 in Köln gestorben. Ihre kritische Stimme wird fehlen. Ein persönlicher Nachruf von Tina Groll.

“Werde, die Du bist.” Dieser Satz bedeutete der Journalistin Marlies Hesse viel. Immer wieder nutzte die Wahl-Kölnerin dieses Zitat, vorgetragen mit bewusster Betonung, um Frauen zu ermutigen, ihren eigenen Weg zu gehen und ihren Visionen und Zielen zu folgen. Empowerment. Marlies Hesse war unermüdlich darin. Ihr unerschütterlicher Optimus, ihr wacher, reger, niemals müder Geist, ihre unendliche Neugierde und ihre klare Haltung, dass ihr als Frau ganz selbstverständlich die Hälfte des Himmels, dieser Welt und als Journalistin auch mindestens die Hälfte der Medienbranche gehören, brachten sie selbst sehr weit – als erste Frau bis in die Intendanz des Deutschlandfunks.

“Werde, die du bist” – dieses Zitat der Journalistin und Frauenrechtlerin Hedwig Dohm (1831-1919) formulierte Marlies stets mit Bedacht, mit Wertschätzung und immer mit großer Freude. Oft lachte sie dann. “Hach, wie das klingt – werde, die Du bist”, fügte sie oft hinzu und ihre Augen strahlten dabei mit ihrem verschmitzten und so vereinnahmenden Lächeln um die Wette.

Marlies Hesse war Journalistin, Publizistin und Frauenrechtlerin. Sie war nicht nur die erste Frau in der Intendanz des Deutschlandfunks, sie prägte die JournalistInnenausbildung maßgeblich mit. Und sie war vor allem eins: Wegbereiterin für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern im Journalismus.

Geboren am 3. Oktober 1935 in der idyllischen Lüneburger Heide in Peine, wuchs sie ohne Vater auf. Er konnte noch ihre Einschulung miterleben, danach brachten die Mutter und Marlies ihn zum Zug, er musste als Soldat an die Front. Doch er kehrte aus Stalingrad nicht zurück. Und so war die Zweisamkeit mit ihrer Mutter prägend für sie. Mit ihrer Mutter hatte sie ein inniges Verhältnis. Auch, weil die Mutter sie dazu ermutigte, ihren eigenen Weg zu gehen und unabhängig zu werden. Und das tat die Tochter auch.

Wissbegierig und neugierig

Wissbegierig und neugierig – das war Marlies schon als kleines Kind. Sie las gern und viel. Was lag da näher als eine Ausbildung zur Buchhändlerin? Die beendete sie im Jahr 1957 mit Auszeichnung. Gleich danach setzte Marlies ihre akademische Laufbahn fort und erlangte 1961 das Diplom zur Bibliothekarin. Ihr Weg führte sie zur Leitung der Bibliothek des Hans-Bredow-Instituts an der Universität Hamburg, wo sie ihre Leidenschaft für Wissen und Bildung entfalten konnte.

Nur wenig später, 1965 und im Alter von knapp 30 Jahren, folgte sie dem Ruf von Kurt Wagenführ, dem damaligen Pressechef des Deutschlandfunks (DLF). Sie wurde seine Stellvertreterin. Ein Karriereschritt, der sie in eine gänzlich von Männern dominierte Welt katapultierte, denn Frauen gab es zu dieser Zeit höchstens in den Vorzimmern als Sekretärinnen.

Als junge Frau allein unter vielen Männern – Marlies nahm diese Herausforderung gerne an. Als Wagenführ 1968 in Pension ging, regte er an, dass Marlies seinen Posten übernehmen sollte. Sie war damals gerade 33 Jahre alt. Sie zögerte und lehnte schließlich das Angebot ab – leitete die Pressestelle aber anderthalb Jahre kommissarisch, bis ein Mann für den Posten gefunden war. Dass sie dieses Angebot ausschlug, bereute sie später; und erzählte jungen Frauen, die sie um Karriererat baten, immer gerne von diesem Fehler. Denn, wie sie im Alter rückblickend gerne erzählte, wäre sie wohl die fachlich bessere Wahl gewesen.

Ein unerschütterlicher Optimismus

Dennoch warf sie diese Entscheidung nicht zurück. In einem Alter, in dem die meisten anderen Frauen zu dieser Zeit heirateten und Mutter wurden, strebte Marlies nun nach einer Führungsposition – und das sagte sie den Männern in den Machtpositionen auch. So viel Zielstrebigkeit und Selbstbewusstsein kam an. Marlies Hesse sagte später, sie habe nie Diskriminierung erfahren. Sie sei von den Männern immer gefördert worden. Vielleicht, weil sie die Spielregeln der männlich geprägten Medienwelt schon damals perfekt beherrschte?

1974 wurde sie persönliche Referentin des damaligen Intendanten Reinhard Appell und blieb es auch bei dessen Nachfolger Richard Becker. 1979 übernahm sie das Referat Aus- und Fortbildung und entwickelte in führender Rolle das journalistische Ausbildungskonzept für die ARD und das ZDF. Immer wieder ärgerte sich Marlies darüber, dass hervorragend ausgebildete und qualifizierte Journalistinnen irgendwann nach Volontariat und einigen Jahren Redaktionsarbeit plötzlich “verschwanden” oder in ihrer beruflichen Entwicklung stagnieren. Sie wunderte sich darüber. Denn nicht immer lag das an Familiengründung und Kindern. Die meisten Journalistinnen zu dieser Zeit blieben kinderlos. Die sogenannte gläserne Decke, ein struktureller Sexismus, verhinderte den Aufstieg der Frauen. Doch Marlies erkannte diesen noch nicht.

Marlies betonte zeitlebens, dass sie selbst keinen Sexismus und auch keine geschlechtsspezifische Benachteiligung erlebt habe. Die Männer, mit denen sie arbeitete, hätten sie stets aufgrund ihrer Kompetenz gefördert. Wer Marlies persönlich kannte, ahnt, woran das lag. Sie war immer hellwach, ehrgeizig, zielstrebig, aufgeben war für sie nie eine Option. Lief etwas nicht gut, lief es für sie noch nicht gut. Sie sah schwierige Situationen stets als Herausforderung denn als echtes Problem an und fand immer eine Lösung.

Sie führte ein unabhängiges Leben, das sie in vollen Zügen genoss. Privat war sie viele Jahre mit einem Künstler liiert. Doch irgendwann wurde ihr klar, warum andere Frauen es nicht so leicht hatten wie sie. Warum es für viele Journalistinnen eben nicht ausreichte, nur hochkompetent zu sein – und dass es strukturelle Diskriminierung und Benachteiligung aufgrund von Geschlecht gibt. Der Kampf gegen diese Ungleichheit war künftig zentral für Marlies Hesse. Dass Frauen “die gleichen Chancen haben sollten wie Männer in der Bewusstseinsindustrie”, dieses von Frank Schirrmacher geprägte Wort für die Medienbranche, verwendete sie hin und wieder, und trieb sie als Ziel an. Und so wurde sie zu einer Wegbereiterin für die Gleichstellung der Geschlechter im Journalismus.

Sie beherrschte die Spielregeln der Macht

Unter anderem baute sie die Zentralstelle Fortbildung Programm (ZFP) als Gemeinschaftseinrichtung von ARD und ZDF mit auf, wirkte aber auch im Hintergrund und zog Strippen, wenn es um die Karrieren von Männern in journalistischen Führungspositionen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ging. Marlies wusste: Nur wenn die richtigen Entscheider in den Machtpositionen waren, würde sich auch die Gleichstellung weiter verbessern.

Marlies blieb beim Deutschlandfunk bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 1994. Danach begann im wahrsten Sinne des Wortes ein Un-Ruhestand von 30 Jahren Dauer. Drei Jahrzehnte, in denen sie als freie Journalistin und vor allem in ihrer Rolle als langjährige Geschäftsführerin des Journalistinnenbunds (JB) bis zum Jahr 2010 wirkte. Aber auch nach 2010 war noch lange nicht Schluss beim JB. Sie war und blieb die Seele des Vereins.

Und sie war noch so viel mehr: Mentorin, Türöffnerin, Ratgeberin, aber auch Antreiberin, Motivatorin und vor allem Freundin für unzählige Journalistinnen und Medienfrauen. Viele preisgekrönte Autorinnen und Journalistinnen wurden irgendwann auch von Marlies Hesse unterstützt. Und sei es, dass sie mit ihrem weiten Frauennetzwerk bei einer kniffeligen Recherche weiterhelfen konnte.

Gegen das Vergessen

Und die Kölnerin stiftete den Marlies-Hesse-Nachwuchspreis aus ihrem Privatvermögen. Denn auch das war ihr wichtig: sichtbar zu sein. Dass so viele kluge Frauen einfach verschwinden, weil nicht an sie erinnert wird, ärgerte Marlies Hesse zutiefst. Darum engagierte sie sich auch gegen das Vergessen und machte zum Beispiel Vorschläge für Straßennamen. Einige Straßen in ihrer Heimatstadt Köln sind mittlerweile dank ihres Wirken nach Frauen wie etwa Hedwig Dohm benannt.

Die Tür ihres Kölner Hauses stand auch für alle offen, die sich ernsthaft für Fragen der Gleichberechtigung in den Medien interessierten. Wer wollte, durfte sie besuchen – und wurde in den zweiten Stock ihrer Doppelhaushälfte geführt, vorbei an vielen wertvollen modernen Kunstwerken, teilweise Werke ihres früheren Lebenspartners. Oben angekommen im verwinkelten Büro mit Bibliothek saß man in einer Art Frauenarchiv. Hier recherchierte, schrieb und arbeitete Marlies, hier gab sie Interviews, hier fand sie auf jede Frage in irgendeinem Schriftstück eine präzise Antwort. Meistens hatte sie diese Antworten aber sowieso im Kopf. Dazu gab es Kaffee und Kuchen, Sonnenstrahlen fielen vom Fenster herein und es wurde diskutiert, gelacht und interessiert zugehört. Denn Marlies Hesse war warmherzig und zugewandt. Sie schien selten schlechte Laune zu haben.

Und meistens kam noch ihre Freundin, die promovierte Ökonomin Elisabeth  dazu, die das Gespräch um wertvolle und kluge Perspektiven bereicherte. Marlies und Elisabeth hatten sich auf einer Frauenreise kennengelernt und angefreundet. Die beiden Frauen wussten: Nur mit Solidarität und vereinten Kräften kommen Frauen weiter. Und was politisch gilt, das funktioniert auch privat. Die beiden Frauen taten sich im Alter zusammen und zogen gemeinsam in ein Doppelhaus, sie wurden im wahrsten Sinne des Wortes Lebensgefährtinnen. Marlies erzählte oft mit einem Lachen, dass ihre Entscheidung für ein unabhängiges Leben als bewusst kinderlose Frau eben nicht bedeuten musste, im Alter allein zu sein – und sie liebte ihre “Beutefamilie” , die sie über Elisabeths Kinder und Enkel dazu bekommen hatte. Für ihre beiden Enkelkinder war sie einfach die dritte Oma. Es spielte keine Rolle, dass sie “nur” die soziale Omaschaft übernommen hatte. Und genau in dieser Adaption von sozialen Rollen war Marlies Hesse wiederum ein Vorbild für andere Frauen ohne eigene biologische Kinder.

Für ihr unermüdliches Engagement wurde sie vom JB schließlich mit der Hedwig-Dohm-Urkunde ausgezeichnet. Auch erhielt sie den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland für ihren Beitrag zur Gleichstellung von Mann und Frau.

Sie war ein Vorbild

Marlies Hesse hat viele Medienfrauen, viele Journalistinnen, Publizistinnen und Multiplikatorinnen inspiriert. Auch im hohen Alter, mit weit über 80 Jahren, war sie immer noch neugierig und fand die Welt so furchtbar anregend. Man hatte immer den Eindruck, eine junge Frau maximal in der Lebensmitte sitze einem gegenüber. Marlies ist immer mit der Zeit gegangen. Vor Social Media etwa hatte sie keine Angst, sondern Freude und Begeisterung.

Inspirierend war auch ihr eigener Umgang mit dem Alter, mit beginnender Gebrechlichkeit, mit Schicksalsschlägen in der Lebensphase. Nie verlor Marlies ihren Optimismus und ihre Lebensfreude. So war auch ihr letzter Weihnachtsbrief – eine über viele Jahre gepflegte Tradition, denn Weggefährtinnen, Kolleginnen, Freundinnen, Bekannte erhielten immer pünktlich kurz vor Weihnachten Post von ihr. Eine Zusammenfassung ihres Jahres, angereichert mit vielen Fragestellungen, Erkenntnissen und Impulsen zum Weiterdenken – voller hoffnungsfroher Ausblicke auf das Jahr 2024.

Marlies Hesse ist am 19. Februar 2024 in Köln gestorben. Ihre kritische Stimme wird fehlen.

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Tina Groll

Tina Groll arbeitet hauptberuflich als Redakteurin bei ZEIT ONLINE im Ressort Politik & Wirtschaft. 2008 zeichnete sie das Medium Magazin als eine der “Top 30 Journalisten unter 30 Jahren“ aus. Sie ist Mitglied im Deutschen Presserat sowie als Vorsitzende der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union tätig. Als Autorin von WIR SIND DER WANDEL beschäftigt sie sich mit der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Gesundheitspolitik.