Rund 90 Prozent unserer Entscheidungen treffen wir schnell und intuitiv. Geht auch nicht anders, denn pro Sekunde prasseln mehr als 11 Millionen Sinneseindrücke auf uns ein. Warum wir dabei oft ungerecht entscheiden und was sich dagegen tun lässt, weiß Veronika Hucke.
Ein Gastbeitrag von Veronika Hucke
In den meisten Organisationen wächst das Bewusstsein, dass nicht allein Qualifikation, Eignung und Ambitionen über den Aufstieg entscheiden; darüber, wer an spannenden Projekte beteiligt wird oder auch mal von zuhause arbeiten kann. Stattdessen beeinflussen unbewusste Vorurteile (unconscious bias = Wahrnehmungsverzerrungen) und Stereotype unser Denken. Rund 90 Prozent unserer Entscheidungen treffen wir schnell und intuitiv, aus dem Bauch heraus, indem wir auf Erfahrungen, Faustregeln (Heuristiken) und Annahmen setzen.
Anders würde es uns kaum gelingen, den Alltag zu bewältigen. Immerhin prasseln pro Sekunde mehr als 11 Million Sinneseindrücke auf uns ein. Nur 40 davon können wir bewusst verarbeiten. Und auch nur, weil wir in Schubladen denken und die allermeisten Informationen schlicht ignorieren, kommen wir im Alltag überhaupt zurecht. Gleichzeitig gehen bei rund 10.999.960 ignorierten Details pro Sekunde das eine oder andere verloren – auch relevante Informationen. Vor allem, weil wir nicht alle gleich bewerten. So fallen uns eher Dinge auf, die unsere Überzeugung stützen – weil wir uns auch besser an sie erinnern können. Und zu allem Überfluss interpretieren wir das Geschehen unbewusst auch noch so, dass es in unser Weltbild passt. Das alles führt dazu, dass sich Stereotype entwickeln (und eisern halten!). Die besagen, wie klug, qualifiziert und vertrauenswürdig unterschiedliche Menschen sind. Und wie sie sich nach unserer Meinung üblicher Weise verhalten oder verhalten sollten. Wer gegen diese Stereotype verstößt und unseren Erwartungen nicht entspricht, hat schlechte Karten.
Unser Hirn braucht Hilfe
Während es positiv ist, dass das Problembewusstsein steigt, reicht das allein nicht aus. Die Erkenntnis, dass wir Vorurteile haben, verhilft uns leider nicht zu besseren Entscheidungen. Denn wir fallen auch auf Stereotype herein, von denen wir wissen, dass sie falsch sind. Für faire und qualifizierte Entscheidungen, braucht unser Gehirn Hilfe, Strukturen, die Vergleichbarkeit gewährleisten, sowie Stolpersteine, die einen Automatismus unterbrechen. Eben ein Sicherheitsnetz, das uns in Situationen auffängt, in denen wir leicht Fehleinschätzungen erliegen. Nur wenn wir aktiv gegensteuern, können wir verhindern, dass unser Verstand eine Abkürzung nimmt und eine schnelle, aber ungerechte Einschätzung trifft.
Ein Beispiel: Bei zu vielen Information oder wenn uns welche fehlen, wenn die Zeit knapp ist oder wir überlastet sind, verlassen wir uns besonders gerne auf unsere Intuition. Um qualifiziertere Entscheidungen treffen zu können, helfen folgende Empfehlungen:
- Wir haben zu viele Informationen: Statt sich von der Informationsflut überwältigen zu lassen, lohnt sich ein Schritt zurück. Welche Informationen sind im aktuellen Kontext tatsächlich relevant? Was sind die wesentlichen Entscheidungskriterien? So können wir uns auf das fokussieren, was wirklich zählt.
- Wir haben kein vollständiges Bild: Wenn relevante Informationen fehlen, tendieren wir dazu die Lücken selbst zu füllen. Wir generalisieren und verlassen uns auf Stereotype und die eigene Interpretation. Stattdessen gilt es zu hinterfragen, was wir tatsächlich wissen bzw. nur annehmen. Was fehlt und wie lassen sich diese Daten beschaffen?
- Wir haben zu wenig Zeit: Gestresst oder müde? Das schafft fast optimale Bedingungen, damit Stereotype und Annahmen uns beeinflussen. Wichtige Entscheidungen sollte man daher lieber mit frischem Kopf angehen. Auch der eigene Biorhythmus beeinflusst die Entscheidungsqualität. Berücksichtigen Sie daher persönliche Präferenzen.
- Uns platzt fast der Kopf: Wenn zu viel anliegt, bemüht sich das Gehirn, Ressourcen zu schonen. Wir verlassen uns auf unsere Instinkte und ignorieren, was uns aufhalten könnte. Um sich in solchen Situationen zu fokussieren, helfen Notizen. Schreiben Sie sich auf, was ihnen wichtig ist. Das hilft bei der Konzentration.
Bedenken Sie, was bisher geschah
Den Vorteil guter Notizen erleben viele Vorgesetzte spätestens im Beurteilungsgespräch. Statt in den Tiefen des Hirns nach relevanten Beispielen zu kramen, sind sie so sauber aufgeschrieben in den Unterlagen zu finden. Das hilft besonders für Gespräche mit denjenigen, die uns weniger begeistern.
Für Fälle zu planen, in denen der Kopf gerne Abkürzungen nimmt, ist das eine. Wirklich fair zu urteilen, erfordert mehr. Denn den meisten Situationen sind andere vorausgegangen, die unser Bild beeinflusst haben. So gehen beispielsweise der Entscheidung über eine neue, größere Aufgabe, eine Gehaltserhöhung oder eine Beförderung zahllose andere voraus, die letztlich die Weichen stellen. Daher hilft es, zur Bestandsaufnahme die Mitglieder des eigenen Teams in der Kompetenz-Vertrauen-Matrix einmal abzubilden.
Überlegen Sie dazu:
- wen Sie im Team für besonders kompetent halten. Wer macht immer einen tollen Job? Wer übernimmt knifflige und kritische Aufgaben und liefert zuverlässig ab?
- Wer genießt Ihr Vertrauen? Auf wen setzen Sie, wenn es hart auf hart kommt? Wenn beziehen Sie vielleicht früher als andere oder öfter in strategische oder vertrauliche Projekte ein?
Wenn man sein Team so sortiert vor Augen hat, geht es daran, die Platzierungen zu verstehen. Wer steht wo? Warum? Was sind die Aspekte, die meine Wahrnehmung beeinflussen? Welche Belege führe ich dafür an, dass jemand besonders oder weniger kompetent ist? Auf welcher Basis treffe ich mein Urteil? Warum halte ich manche für vertrauenswürdiger als andere? Haben mich diejenigen, denen ich weniger vertraue, schon einmal enttäuscht? Oder liegen mir die anderen einfach mehr?
Überlegen Sie im nächsten Schritt, wie sich die Platzierung auswirkt. Wie beeinflusst sie mein Verhalten? Wer erlebt mehr, wer weniger Wertschätzung? Wer hat bessere oder schlechtere Chancen zu glänzen? Wer bekommt Sichtbarkeit auch jenseits meiner Abteilung und baut wichtige Kontakte auf?
Es gibt viele Aspekte, die die Sicht auf die Kompetenz einer Person beeinflussen, die mit den tatsächlichen Fähigkeiten rein gar nichts zu tun haben. Ebenso wird das Vertrauen, das wir in eine Person setzen, nur zu einem geringen Teil von ihrer Verlässlichkeit bestimmt. Je deutlicher ich mir bewusst mache, was abläuft, wie sich das auf mich auswirkt und welche Konsequenzen es für die Betroffenen hat, desto leichter kann ich einen konkreten Aktionsplan schmieden, und Maßnahmen definieren, um Ungerechtigkeiten auszugleichen.
Veronika Hucke war fast 20 Jahre in Führungspositionen für Kommunikation und Markenführung bekannter Unternehmen verantwortlich. Zuletzt in der zentralen Personalabteilung von Philips in Amsterdam. Heute unterstützt sie als Beraterin verschiedene DAX-Konzerne sowie die UNO in Fragen zu Diversity und Inklusion. Ihr Praxisguide für faire Führung Fair führen ist im Campus Verlag erschienen.