Kollaboration statt Egoismus

Gruppe auf Gletscher

Mit Selbstsucht, Machtkämpfen, Grabenkriegen, Intrigen, Mauscheleien, Lug und Trug im Unternehmen zieht man Egoisten heran. Die großen Herausforderungen der Zukunft bewältigt man so nicht, weiß Anne M. Schüller.

Ein Gastbeitrag von Anne M. Schüller

Komplexe Aufgaben lassen sich nur gemeinsam gut lösen, denn vielen klugen Köpfen fällt mehr ein als einem allein. Wir müssen also enger zusammenrücken als je zuvor. Daher können die großen Herausforderungen der Zukunft auch nur im Miteinander bewältigt werden.

So gilt es, in den Unternehmen Strukturen zu schaffen, die es begünstigen, kollaborativ zu denken und zu handeln. Dafür braucht es inspirierende Multi-Space-Arbeitsräume, Social Collaboration Tools, eine interne soziale Plattform (Enterprise Social Network) und eine Kultur des Teilens. Das heißt, wir müssen uns endgültig von dem Gedanken trennen, das interne Konkurrenz zu den besten Ergebnissen führt.

Ein anderer muss nicht verlieren, damit man selbst gewinnt. Auch strebt Konkurrenz eine Win-Lose-Situation an, Kollaboration hingegen Win-Win. Wenn es zum Beispiel in einer Organisation 20 Vertriebler gibt und alle teilen ihren besten verkäuferischen Tipp miteinander, dann profitiert jeder von 19 weiteren exzellenten Ideen. Und davon wiederum profitiert auch das Unternehmen als Ganzes.

Firmeninterner Wettbewerb ist geradezu toxisch

Eine Gemeinschaft schafft Höhenflüge, wenn sie friedvoll, offen, ehrlich und auf Augenhöhe miteinander umgeht und andere wertschätzend miteinbezieht. Was ganz und gar nicht selbstverständlich ist! Vor allem in größeren klassischen Organisationen stehen die einzelnen Bereiche ebenso wie deren Mitarbeitende in Konkurrenz. Sie werden gegeneinander evaluiert und erhalten incentivierte Einzelziele.

Wir sind der Wandel-NewsletterIn solchen Umgebungen wuchern Selbstsucht, Machtkämpfe, Grabenkriege, Intrigen, Mauscheleien, Lug und Trug. Eine Übertreibung? Ganz und gar nicht, sondern vielerorts noch immer traurige Realität. Wozu auch Einzelboni gehören, denn durch diese Isolierungsmaßnahmen stirbt das Gemeinsame. Es profitieren diejenigen, die unkooperativ sind, ihren Besitzstand schützen und ihr Wissen für sich behalten.

Ein System, das Egoismus belohnt, erzeugt Egoisten. Dann wird nur noch das gemacht, wofür es Boni gibt. Und anderes, besseres, wünschenswerteres bleibt auf der Strecke. Bestandssicherung und Verlustaversion sind dann die prägenden Themen. Deshalb gilt es fortan, eine Kultur zu fördern, die den Fokus auf gemeinschaftlichen Erfolg legt. Also eine Kultur, die Kooperation und nicht Konformismus belohnt, sondern Mut im Denken und Tun.

Kernstück der Kollaboration: die „Weisheit der Vielen“

Zwar ist die Expertise der einzelnen Mitglieder einer Gruppe von hoher Bedeutung, um gute Ergebnisse zu erzielen. Doch das multiperspektivische Zusammenbringen von Wissen, Können und kollektiver Intelligenz spielt eine noch viel größere Rolle. Innovationen entstehen am ehesten dann, wenn sich Menschen quer durch die gesamte Firma über die Zukunft des Unternehmens Gedanken machen. Und wenn man jeden hilfreichen Vorstoß integriert, ganz egal, aus welcher Ecke er kommt.

Die unsichtbaren Wände zwischen den Abteilungen müssen also fallen und die Zuständigkeitsdenke muss weg, damit ein Zusammenwirken reibungslos funktioniert. Hierfür favorisiere ich den Begriff „Weisheit der Vielen“. Darunter versteht man eine sich mehr oder weniger selbst organisierende gemeinschaftliche Intelligenz, die jenseits von Abschottung, Ressort-Egoismen, Bürokratie und Machtautoritäten eine Vielfalt von Innovationen hervorbringen kann.

Nicht in der Isolation, sondern gemeinsam und mit einem weiten Gesichtsfeld gelingt es am besten, Ideen zu entwickeln, die zuvor noch niemand hatte, und auf die man allein nicht gekommen wäre. Die Meinungsvielfalt der einzelnen Mitglieder und eine Öffnung für die unterschiedlichsten Denkweisen führen zu Variantenreichtum, zu Co-Kreativität, zu Experimentierfreudigkeit und einer spannenden Neukombination von Möglichkeiten. Außerdem steigt die Durchdringungstiefe. Viele können viele weitere „entzünden“.

Kollaboration braucht „psychologische Sicherheit“

Der beste Output entsteht selbst bei jedem einzelnen dann, wenn wir unsere Einfälle wertschätzend mit anderen teilen. Jeder Gedanke wird klüger, schärfer, präziser, brillanter – wenn man ihn ausgiebig bespricht. Dritte helfen, herauszufinden, woran man selbst nicht gedacht hat. Austausch mit Substanz bringt einen immer weiter. So kann sich aus einer simplen Idee, gut angereichert, schließlich etwas Großartiges formen.

Die Vorteile solcher Meinungsdiversität können aber nur dann ausgeschöpft werden, wenn es „psychologische Sicherheit“ gibt. Dabei geht es um die Wahrnehmung jedes Einzelnen in einer Gruppe, keine zwischenmenschliche Angst haben zu müssen und sich am Arbeitsplatz emotional sicher zu fühlen.

In einer solchen Umgebung fällt es den Menschen leicht, sich voll und ganz einzubringen. Sie sagen offen ihre Meinung, experimentieren mit neuen Vorgehensweisen, reden über ihre Fehler, holen Feedback ein und bitten um Hilfe. Je sicherer die Atmosphäre, desto mutiger sind die Taten. Übrigens errang mit diesem Konzept die Harvard-Professorin Amy Edmondson im Jahr 2021 Platz eins im globalen „Thinkers50“-Ranking.

Zu klugen kollaborativen Entscheidungen kann eine Gruppe nur dann kommen,

  • wenn jeder Teilnehmende in seiner Meinungsbildung unabhängig ist,
  • wenn jeder Zugang zu allen entscheidungsrelevanten Informationen hat,
  • wenn jeder seine Meinung frei äußern darf und respektvoll angehört wird,
  • wenn man sich autoritätsfrei auf ein passendes Vorgehen einigen kann.

Schließlich muss sich die Gruppe treffen können – unbedingt auch real. Zunehmend wird nämlich erkannt, dass Menschen am besten zusammenwirken, wenn sie sich sehen. Denn Nähe erzeugt mehr emotionale Zugkraft als Distanz. Zudem zeigt sich in Gestik und Mimik die wahre Gesinnung. Ein gutes Intuitionsradar kann das spüren und decodiert friedliche Absichten – und auch Ruchlosigkeit.

Konflikte gehören dazu

Körpersprachliche Signale werden am ehesten dann entschlüsselt, wenn alle Sinne beteiligt sind. Besonders Empathie glückt besser bei räumlicher Nähe. Auch Vertrauen, der Komplexitätsreduzierer par excellence, braucht Präsenz. Wen wir nicht persönlich kennen, dem vertrauen wir eher nicht. Hemmschwellen sinken in der Anonymität und mit zunehmender Distanz. Hingegen verändert Nähe und dabei vor allem ein intensiver Augenkontakt das Verhalten der Menschen zum Guten.

Selbst im besten Team herrscht nicht immer eitel Sonnenschein. Manchmal kracht es aus allen Wolken. Die erste Erkenntnis: Konflikte gehören dazu. Wir sollten sie weder totschweigen noch unter den Teppich kehren, sondern einen angemessenen Weg finden, damit umzugehen. Die Überwindung eines Konflikts ist immer ein Fortschritt. Die zweite Erkenntnis: Ein ernster Konflikt lässt sich nicht virtuell lösen. Er erfordert Präsenz. Die dritte Erkenntnis: Nicht der Chef ist dazu da, Konflikte zu lösen. Dort, wo zunehmend selbstorganisiert gearbeitet wird, nehmen die Teammitglieder das selbst in die Hand. Sie machen sich, idealerweise unterstützt durch einen Lerncoach, mit Methoden der Konfliktbewältigung vertraut. Ein Vorgehen ist beispielsweise das „konstruktive Schimpfen“ nach Peter Röhrig.

Konfliktbewältigung durch konstruktives Schimpfen

Kern dieser Intervention – am besten mit einer größeren Teilnehmerzahl – ist ein zehnminütiger Spaziergang in Zweier-Gruppen, bei dem nacheinander beide Personen das ansprechen, was sie stört. Doch nicht die Kontrahenten gehen miteinander spazieren, sondern eher Personen, die sich nicht so gut kennen. Auf dem Hinweg spricht zunächst die erste Person fünf Minuten lang darüber, was sie ärgert oder frustriert, was nicht rund läuft oder was sonst stört. So redet man sich die Dinge von der Seele. Dabei emotional zu werden, gehört dazu – doch keiner darf verletzend werden.

Dabei unterbricht die zweite Person den Redefluss nicht, sondern hört gut zu. Herrscht eine Gesprächspause, die länger als zehn Sekunden dauert, fragt sie ruhig nach: „Und was noch?“ Nach knapp fünf Minuten bringt sie das Schimpfen behutsam zu Ende, und beide drehen um. Auf dem Rückweg ist die zweite Person selbst dran. Wieder zurück im Besprechungsraum stellen die Gesprächspartner einander die Frage: „Was möchtest du nun erreichen?“

Hat der bzw. die Angesprochene mehr als einen Wunsch, wird gefragt, welcher Wunsch der wichtigste ist. Die Antwort schreibt der, der fragt, auf einen Haftzettel. Wenn alle fertig sind, werden die Post-its an eine Stellwand geklebt und vom jeweiligen Konfliktpartner laut vorgelesen. Keiner trägt seine Wünsche selbst vor.

Wieso das? Indem sich eine andere Person den Anliegen widmet und man nicht selbst für die eigenen Wünsche „kämpfen muss“, entsteht eine Atmosphäre des Vertrauens, der gegenseitigen Anteilnahme und Verbundenheit. Die Perspektive verschiebt sich vom Problem zu einem Wunsch nach Verbesserung. Abschließend werden die gelisteten Wünsche in Kleingruppen bearbeitet und einer machbaren Lösung zugeführt. Idealerweise begleitet eine Moderatorin bzw. ein Moderator die gesamte Intervention.

Anne M. Schüller

Anne M. Schüller, Keynote-Speakerin, Bestsellerautorin und Businesscoach, gilt als eine der führenden Expertinnen für „Touchpoint Management“ und kundenfokussierte Unternehmenstransformation. Der Gastbeitrag stammt aus dem Buch Bahn frei für Übermorgengestalter.

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