Wir sprachen mit der Inklusionsberaterin Laura Gehlhaar, warum behinderte Menschen nicht Teil des ersten Arbeitsmarktes sind und warum Behindertenwerkstätten abgeschafft gehören.
Behinderte Menschen haben ein Recht auf umfassende Teilhabe und somit ein Recht auf Arbeit. Der erste Arbeitsmarkt aber steht ihnen so gut wie gar nicht zur Verfügung. Viele Unternehmen sind nicht barrierefrei zugänglich. Aus der Politik kommt keine Rückendeckung. Und der Gesellschaft fehlen notwendige Berührungspunkte.
Die Barrierefreiheit ist für behinderte Menschen also enorm wichtig, denn sie bedeutet Zugang, Potentialausschöpfung sowie Weiterentwicklung. Laura Gehlhaar erlebt in ihrem Job immer wieder, wie Teams und Unternehmen profitieren, wenn sie behinderte Menschen Zugang zu sich verschaffen.
Frauen haben etwas zu sagen, sie müssen allerdings den Raum erhalten, das auch zu tun! Diesen bieten wir mit unserem Format DIE CHEFIN-TALK.
Hier laden wir Frauen ein, mit uns über ihr Thema zu sprechen.
Wir sind der Wandel: Behinderte Menschen sind kaum Teil des ersten Arbeitsmarktes. Woran liegt das?
Laura Gehlhaar: Das hat verschiedene Gründe. Einer ist, dass behinderte Menschen in einer Parallelwelt mit vorgeschriebenem Weg leben. Vielleicht besuchen sie noch einen allgemeinen Kindergarten, aber sobald es in Richtung Schule geht, werden sie schnell in Förderschulen gesteckt. Und ab hier führt der Weg meist nur noch weiter in eine Behindertenwerkstatt. In Deutschland arbeiten etwa 300.000 behinderte Menschen in einer solchen Einrichtung. Und weil Behindertenwerkstätten abseits des ersten Arbeitsmarktes agieren, haben behinderte Menschen auch keinen Zugang zu diesem.
Ein weiterer Grund ist, dass es in Deutschland noch immer nicht ein Gesetz gibt, was private Unternehmen verpflichtet, sich barrierefrei aufzustellen. Ich bin als Rollstuhlfahrerin auf dem ersten Arbeitsmarkt unterwegs, allerdings seit vielen Jahren als Selbstständige. Dabei ist die Selbstständigkeit einzig aus dem Grund entstanden, weil meine Chancen auf eine Festanstellung sehr gering waren. Viele Arbeitsplätze nämlich sind nicht barrierefrei zugänglich für mich – und daher unerreichbar.
“Nicht einmal ein Prozent der behinderten Menschen schaffen es aus den Behindertenwerkstätten heraus”
Wir sind der Wandel: Ist nicht der Auftrag von Behindertenwerkstätten, behinderte Menschen für den ersten Arbeitsmarkt auszubilden?
Gehlhaar: Das ist der offizielle Bildungsauftrag. Allerdings schaffen es noch nicht einmal ein Prozent der behinderten Menschen aus den Behindertenwerkstätten heraus. In diesem in sich geschlossenen System steckt sehr viel Geld. Deshalb besteht auch kein Interesse, dieses doch sehr diskriminierende und menschenverachtende System abzuschaffen.
Aktuell verdient ein behinderter Mensch in einer Behindertenwerkstatt monatlich etwa 160 Euro. Das ist ein Stundenlohn von 1,35 Euro – sehr weit entfernt vom Mindestlohn. Eine Lösung, um behinderte Menschen auf den ersten Arbeitsmarkt zu bekommen, wo sie gerecht entlohnt werden, wäre daher nur, dieses System abzuschaffen und einen systematischen lösungsorientierten Aktionsplan zu erstellen.
Und auch wenn viele dafür kämpfen, den Mindestlohn in Behindertenwerkstätten einzuführen, ist dieser Kampf meiner Meinung nach nur ein Pflaster. Denn er greift nicht die Wurzel des diskriminierenden Systems an. Groß-Britannien beispielsweise hat sich ab 2006 immer stärker vom System Behindertenwerkstatt verabschiedet. Das würde ich mir auch für Deutschland sehr wünschen.
Wir sind der Wandel: Was sollte die Politik konkret tun?
Gehlhaar: Starke Antidiskriminierungsgesetze verabschieden, die greifen. Die vorsehen, dass ich als behinderte Beschäftigte einen barrierefreien Zugang zu Arbeitsplätzen sowie Bewerbungen und -prozessen habe. Bisher aber gibt es viel zu wenig Rückendeckung aus der Politik. Unternehmen sind nicht dazu verpflichtet, sich barrierefrei aufzustellen. Das heißt, sie müssen nicht dafür sorgen, dass zum Beispiel ihre Stellenbeschreibungen und ihre Gebäude barrierefrei zugänglich sind.
“Bisher fühlt sich kein Ministerium zuständig”
Wie sind der Wandel: Wie passt das mit der Behindertenquote für Firmen zusammen? Beschäftigt ein Unternehmen mehr als 20 Mitarbeitende, müssen davon mindestens fünf Prozent schwerbehindert sein.
Gehlhaar: Diese Frage müssen Sie der Politik stellen. Bisher fühlt sich kein Ministerium dafür zuständig, diesen Missstand zu lösen. Auch können sich Betriebe von dieser Quote freikaufen: Für jede Stelle, die mit einer schwerbehinderten Person besetzt sein sollte, es aber nicht ist, müssen sie bis zu 320 Euro Ausgleichsabgabe im Jahr zahlen. Vergibt dieser Betrieb Aufträge an eine Behindertenwerkstatt, kann er 50 Prozent der Arbeitsleistung von der Abgabepflicht abziehen. Nun ist die Ausgleichsabgabe allerdings so niedrig, dass sie für Betriebe problemlos zu zahlen ist. Eine weitere Maßnahme, die nicht funktioniert.
Wir sind der Wandel: Sie waren bis vor Kurzem länger in den USA. Welche Erfahrungen haben Sie da gemacht?
Gehlhaar: In den USA müssen öffentliche Gebäude sowie Arztpraxen barrierefrei zugänglich sein. Dementsprechend konnte ich mich dort als Rollstuhlfahrerin ganz anders bewegen. Auch wurde ich von meinen Mitmenschen selbstverständlich wahrgenommen. Haben behinderte Menschen mehr Zugang, bewegen sie sich nicht nur mit mehr Selbstbewusstsein, sie können auch in der Mitte der Gesellschaft unterwegs sein.
Ich fühlte mich durch die Barrierefreiheit wesentlich willkommener als in Deutschland, wo viele Orte wie beispielsweise Cafés nur über Stufen erreichbar sind. Fehlen Rollstuhlrampen, signalisiert mir das, dass man mich hier nicht haben möchte. Vielleicht müssen wir radikaler denken, handeln und kommunizieren, damit behinderte Menschen gesehen und verstanden werden.
“Würde die deutsche Politik über die Landesgrenze hinausblicken, würde sie viele Best-Practice-Beispiele sehen”
Wir sind der Wandel: Was wünschen Sie sich von der Politik?
Gehlhaar: Ich wünsche mir nichts mehr. Ich fordere von der Politik stärkere Antidiskriminierungsgesetze in Deutschland. Damit Unternehmen und auch Arztpraxen gesetzlich verpflichtet sind, barrierefreie Zugänge zu gewähren. Einer Studie zufolge ist nur ein Drittel aller Arztpraxen in Deutschland mäßig bis barrierefrei zugänglich.
Würde die deutsche Politik über die Landesgrenze hinausblicken, würde sie viele Best-Practice-Beispiele sehen. So müssen zum Beispiel in vielen europäischen Ländern behinderte Menschen, die auf eine persönliche Assistenz angewiesen sind, nicht ihr Vermögen und Einkommen anteilig dafür aufwenden. In Deutschland hingegen müssen behinderte Menschen sich finanziell beteiligen. Bis 2018 durften sie nicht einmal mehr als 2.600 Euro auf ihrem Konto haben. Alles, was darüber hinaus ging, wurde sofort eingezogen, denn die Betroffenen beziehen diese Leistung aus dem Sozialhilfetopf. Sie werden daher ähnlich behandelt wie Hartz-IV-Empfänger. Bei solchen Bedingungen steuern behinderte Menschen auf die Altersarmut zu. Das ist eine tiefe, strukturelle Diskriminierung.
Wir sind der Wandel: Sie sind aufgrund Ihrer Muskelerkrankung auf den Rollstuhl angewiesen. Wie sah Ihr Weg vom Gymnasium bis zur selbstständigen Unternehmensberaterin aus?
Gehlhaar: Nach dem Abitur habe ich in Holland Sozialpädagogik und Psychologie studiert. Anschließend habe ich in Berlin in der Psychiatrie gearbeitet. Durch eine Kampgange für Barrierefreiheit kam ich mit Betroffenen in Kontakt und setzte mich immer mehr mit den Themen Inklusion, Behinderung und der Gesellschaftshaltung auseinander. Ich verstand, wie Diskriminierung funktioniert, habe mich immer mehr damit auseinandergesetzt und schließlich zu meinem Beruf gemacht. Und weil ich von Organisationen immer häufiger um Rat gebeten wurde, habe ich mich schließlich als Beraterin selbstständig gemacht.
Wir sind der Wandel: Was würden Sie rückblickend als größte Hürde ansehen?
Gehlhaar: Meine größte berufliche Herausforderung ist, dass ich meine Lebenssituation zum Beruf gemacht habe. Ich berate bei einem Thema, von dem ich selbst betroffen bin. Das ist immer emotional und persönlich. Allein dadurch bin ich Diskriminierung ausgesetzt, denn ich führe oft Diskussionen mit nicht-behinderten Menschen, die ihr nihilistischen Verhalten damit begründen, dass das nun mal ihre Meinung ist. Hier muss ich einen professionellen, aber auch persönlichen Weg finden, dass ich das nicht mit nach Hause nehme.