Gehören Minijobs abgeschafft?

Mann wischt Boden

Schon lange werden Minijobs von Ökonomen – linken wie wirtschaftsliberalen – als arbeitsmarktpolitisch ungeeignet kritisiert. Ursprünglich eingeführt, um Arbeitslose wieder in Beschäftigung zu bringen, zeigt sich 20 Jahre später, dass dieser Effekt selten eingetreten ist.

Vielmehr haben Miniijobs sozialversicherungspflichtige Stellen verdrängt. Dabei ist die Liste der Nachteile lang – Minijob-Falle, Klebeeffekt, Sackgasse: 450-Euro-Jobs sind nicht gut angesehen, halten sie Menschen im Niedriglohnsektor und verhindern wegen verfehlter fiskalpoltischer Anreize, dass sie sich eine ordentliche sozialversicherungspflichtige Beschäftigung suchen. Zudem erhalten Minijobber seltener Weiterbildungen, ein Fünftel der geringfügig Beschäftigten arbeitet sogar unter ihrem Qualifikationsniveau. Ferner haben Minijobber ein hohes Armutsrisiko: Rund ein Viertel von ihnen lebt in Haushalten mit weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens.

Und doch gehen gut sieben Millionen Menschen einer geringfügigen Beschäftigung nach. Rund vier Millionen sind ausschließlich in einem Minijob tätig, fast drei Millionen im Nebenjob, wie die Statistik der Bundesagentur für Arbeit zeigt. Es gibt also einen bestimmten Bedarf an Minijobs. Bei Unternehmen in der Gastronomie oder im Tourismus beispielsweise, die Minijobber gern flexibel im Saisongeschäft einsetzen. Aber auch bei Beschäftigten selbst. So sind etwa 60 Prozent der Minijobbenden Frauen, die sich bewusst für dieses Arbeitsverhältnis entschieden haben, weil sie nur im geringen Maße erwerbstätig sein wollen und über den Ehemann beitragsfrei krankenversichert sein können.

450-Euro-Jobs sind häufig die ersten, die in Krisenzeiten gestrichen werden

Doch die Corona-Pandemie hat die Zahl der Minijobs deutlich schrumpfen lassen, denn die 450-Euro-Jobs sind häufig die ersten, die in Krisenzeiten gestrichen werden. Die geringfügige Beschäftigung gilt deshalb als besonders krisenanfällig. Hinzukommt: Für Minijobbende werden weder Beiträge zur Krankenversicherung noch zur Arbeitslosenversicherung abgeführt. Daher bekommen geringfügig Beschäftigte auch kein Kurzarbeitergeld. Die Gefahr, arbeitslos zu werden, ist für Minijobbende gut zwölf Mal höher als für sozialversicherungspflichtig Beschäftigte auf dem Arbeitsmarkt.

Und so sank im gewerblichen Bereich die Zahl der Minijobbenden im Frühjahr 2021 auf einen historischen Tiefstand: 555.000 450-Euro-Jobs gingen laut der Bundesagentur für Arbeit in kurzer Zeit verloren. Die Bertelsmann Stiftung spricht in einer aktuellen Studie sogar davon, dass 870.000 Minijobbende ihren Job verloren hätten. Dabei untersucht die Studie, welche Auswirkungen es hätte, wenn Minijobs generell abgeschafft würden – und kommt in einer Modellrechnung zu dem Ergebnis, dass bis zu 165.000 neue sozialversicherungspflichtige Jobs entstehen und das Bruttoinlandsprodukt bis 2030 um 7,2 Milliarden Euro wachsen könnte.

Profitiert haben vor allem Frauen, denn drei Viertel der Midi-Jobbenden sind Frauen

Die Ökonomen Tom Krebs und Martin Scheffel schlagen in der Studie vor, dass untere Einkommen stärker entlastet werden sollen. Das Prinzip von Brutto gleich Netto würde also für Menschen in Teilzeitstellen mit geringem Stundenumfang, denn genau das sind Minijobs, nicht mehr gelten. Sozialversicherungsabgaben würden ab dem ersten verdienten Euro fällig, allerdings mit einem anfangs sehr geringen Beitragssatz. Die Durchschnittsbelastung stiege linear von 0 Prozent bei keinem Verdienst auf 20,2 Prozent bei einem monatlichen Bruttoeinkommen von 1.800 Euro an – der oberen Niedriglohngrenze für eine vollzeitbeschäftigte Erwerbsperson. Auf diese Weise könnten 160.000 neue Teilzeitstellen entstehen und 5.000 Vollzeitstellen, rechnen die Ökonomen vor. Die Zahl der Arbeitslosen würde um 88.000 sinken. Und die vielen Minijobbenden, die heute schon mehr arbeiten möchte – immerhin mehr als jeder Dritte möchte dies, wird aber von den sprunghaft steigenden Belastungen durch Sozialabgaben und Steuern ab der Überschreitung der 450-Euro-Grenze davon abgehalten – könnten das in diesem Szenario, so die Bertelsmann-Studie.

Dafür spricht auch ein anderer Befund: Seit der letzten Reform der Midi-Jobs – also jene Jobs, in denen die Beschäftigten zwischen 850 und 1.300 verdienen – ist die Zahl der Beschäftigten in diesem Bereich deutlich gestiegen und hat sich mehr als verdoppelt. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hatte zum 1. Juli 2019 nicht nur die Verdienstgrenze für Midi-Jobs auf 1.300 Euro angehoben. Er hatte auch dafür gesorgt, dass die verringerten Rentenbeiträge der Beschäftigten nicht mehr zu niedrigeren Renten führen. Laut seinem Ministerium lag die Zahl der Midi-Jobbenden im Dezember 2020 bei gut 2,98 Millionen, wie aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken im Bundestag hervorgeht. Vor der Reform waren es 1,22 Millionen Midi-Jobber gewesen.

Laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) war das zwar zu erwarten, dennoch habe die letzte Reform dafür gesorgt, dass mehr Menschen aus den Minijobs gekommen seien und ihre Beschäftigung in den Midijob-Bereich ausgeweitet hätten. Die Zahlen des Arbeitsministeriums zeigen auch: Profitiert haben vor allem Frauen, denn drei Viertel der Midi-Jobbenden sind Frauen.

Immer mehr Menschen gehen nebenbei einem Minijob nach

Sollte man nun also nachsteuern und die Minjobs ganz abschaffen? Ganz so einfach ist es leider nicht. Der Blick auf die Statistik zeigt nämlich auch, dass die Zahl der Minijobbenden über die vergangenen zehn Jahre vergleichsweise stabil geblieben ist. Und dass es schon vor der Pandemie eine für den Arbeitsmarkt positive Entwicklung gegeben hatte: Die Zahl der Menschen, die ausschließlich einer geringfügigen Beschäftigung nachgeht, ist seit Jahren rückläufig, wie der Arbeitsmarktforscher Ulrich Walwei vom IAB in einem Sachverständigen-Gutachten für den Bundestag feststellt. Im Jahr 2009 etwa hatten mehr als fünf Millionen Menschen ausschließlich einen Minijob, heute sind es gut eine Million weniger. In der gleichen Zeit hat auch die Zahl der versicherungspflichtigen Jobs zugenommen.

Zugleich ist im selben Zeitraum die Zahl jener gestiegen, die nebenbei einen Minijob hat. Viele sind Studierende, Schülerinnen und Schüler, aber auch Menschen, die im Niedriglohnsektor tätig sind und deren Einkommen nicht reicht. Die Zahl der Menschen, die einer Mehrfachbeschäftigung nachgehen, geht aus der Antwort der Bundesagentur für Arbeit an die Linkenabgeordnete Sabine Zimmermann hervor. Es gibt auch immer mehr Rentnerinnen und Rentner, die ihr Einkommen im Alter mit einem Minijob aufbessern: Mehr als eine Million Minijobber sind Rentner. Ihre Zahl könnte in Zukunft noch steigen, denn viele Rentenexperten befürchten eine steigende Altersarmut.

Minijobs einfach abzuschaffen wäre für Studierende, Rentnerinnen und Rentner nachteilig

Minijobs einfach abzuschaffen hätte daher gerade für Studierende und Rentnerinnen und Rentner einen Nachteil. Für viele würde ein wichtiger Baustein bei der Existenzsicherung wegfallen. Und auch für viele Unternehmen wäre eine Abschaffung der Minijobs nachteilig. Gerade in den von den Lockdowns besonders betroffenen Branchen wie der Hotellerie, Gastronomie, den Kinos oder dem Tourismus können viele Betriebe derzeit Beschäftigte nur als 450-Euro-Kräfte finden. Denn viele, die vor der Krise in jenen Branchen sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren, haben sich mittlerweile Jobs in anderen Wirtschaftsbereichen gesucht. Einer Dehoga-Umfrage zufolge kehrte fast jeder zweite Angestellte der Gastronomie für immer den Rücken. Schülerinnen, Schüler und Studierende füllen diese Lücken derzeit, allerdings auch Geringqualifizierte und Angelernte. Ohne die Flexibilität, die 450-Euro-Jobs zulassen, wäre es für viele Betriebe sicher noch schwieger. Auch die Minijob-Zentrale bestätigt, dass aktuell Minijobbende gebraucht werden. Etwa in Restaurants, Hotels und Gaststätten, wo Ende Juni die Zahl der geringfügig Beschäftigten um 63,4 Prozent gegenüber März 2021 zugenommen hatte. „Wir gehen davon aus, dass sich die Zahl der Minijobber weiter erhöhen wird“, so Heinz-Günter Held, bei der Knappschaft-Bahn-See zuständiger Geschäftsführer für die Minijob-Zentrale. „Die Reaktionen von Arbeitgebern zeigen uns, dass in vielen Bereichen dringend Minijobber gesucht werden.“

Doch auch die Parteien wollen eine Reform der geringfügigen Beschäftigung. Die Vorschläge dafür sind aber sehr unterschiedlich: So wollen die Union, die FDP und auch die AfD die geringfügige Beschäftigung letztlich ausdehnen – denn diese Parteien sprechen sich für eine Anhebung der Verdienstgrenzen aus. Die Union schlägt eine Anhebung auf 550 Euro vor, die AfD eine auf 500 Euro bei gleichzeitiger Dynamisierung der Grenze. Sie soll mit der Inflation steigen. So etwas ähnliches möchte auch die FDP, sie schlägt vor, dass die Verdienstgrenze künftig mit dem Mindestlohn steigen soll – auch die CDU denkt in diese Richtung.

Die gestiegene steuerliche Belastung führt zur Aufgabe der 450-Euro-Jobs

Dem IAB-Exerten Walwei zufolge würde das letztlich aber alle Probleme bei der geringfügigen Beschäftigung nur vergrößern. Denn Minijobbende dürfen ja die Geringfügigkeitsgrenze nicht überschreiten, daher ist nur eine bestimmte Anzahl an Stunden zulässig. Dementsprechend kommen Stundenlohnsteigerungen auch oft nicht als Einkommenssteigerung bei den Minijobbenden an. Zudem würde eine Anhebung der Einkommensschwelle auch Mindereinnahmen durch Steuerausfälle, geringere Sozialabgaben für den Staat sowie die Sozialversicherungssysteme bedeuten, weil diese ja künftig erst ab 501 oder 551 Euro Einkommen anfielen und nicht mehr ab 451 Euro.

Grüne, SPD und Linke wollen Minijobs daher, ähnlich wie die Bertelsmann Studie, perspektivisch ganz abschaffen. Allerdings gibt es auch bei dieser Idee einen Haken, so das IAB-Gutachten. Die Zahl der Erwerbstätigen insgesamt würde zurückgehen, weil nicht wenige Minijobs einfach ganz entfallen würden. Der IAB-Experte Walwei geht davon aus, dass dann “beispielsweise durch Mehrarbeit der Stammbelegschaft oder in einigen Fällen auch durch einen verstärkten Einsatz der Arbeitnehmerüberlassung oder von Werkverträgen ersetzt werden”. Zudem ist davon auszugehen, dass Erwerbstätige, die nebenbei einem 450-Euro-Job nachgehen, diesen aufgrund der dann gestiegenen steuerlichen Belastung aufgeben würden.

Eine einfache Lösung ist also nicht so schnell zu haben. Einigkeit besteht immerhin darüber, dass es Minijobs in jedem Falle für Studierende, Schülerinnen und Schüler sowie Rentnerinnen und Rentner geben sollte – das empfehlen sowohl die Experten vom IAB als auch die Bertelsmann-Studie. Und es ist eine Forderung, die alle Parteien erheben. Bei ihnen wenigstens scheint der Minijob nicht zur Falle zu werden.

Tina Groll

Tina Groll arbeitet hauptberuflich als Redakteurin bei ZEIT ONLINE im Ressort Politik & Wirtschaft. 2008 zeichnete sie das Medium Magazin als eine der “Top 30 Journalisten unter 30 Jahren“ aus. Sie ist Mitglied im Deutschen Presserat sowie als Vorsitzende der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union tätig. Als Autorin von WIR SIND DER WANDEL beschäftigt sie sich mit der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Gesundheitspolitik.