Millionen für Jobs, die nicht zum Leben reichen

Menschen unterschiedlicher Herkunft

12 Euro Mindestlohn, mehr Geld im Zuverdienst bei Hartz IV und bei Minijobs: Viele Pläne von SPD, FDP und Grüne klingen nach Verbesserungen. Ökonomen warnen jedoch davor.

Der Mindestlohn soll auf 12 Euro steigen, die Geringfügigkeitsgrenze in Minijobs wird auf 520 Euro angehoben, die Grenze für Midijobs sogar auf 1.600 Euro. Ferner soll das Rentenniveau nicht unter 48 Prozent sinken, auch sollen Menschen in der Grundsicherung nebenbei mehr Geld verdienen dürfen. Vieles aus dem Sondierungspapier von SPD, Grüne und FDP klingt schon recht konkret – und nach echten Verbesserungen bei der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Und doch reißt die Kritik am Sondierungsergebnis nicht ab. Es seien leere Worte statt Taten, für vieles fehle eine solide Finanzierung, so der Tenor.

Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger findet 12 Euro Mindestlohn “brandgefährlich”, ver.di-Chef Frank Werneke prognostiziert angesichts der Rentenpläne steigende Rentenbeitragssätze. Und der Arbeitsmarktforscher Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg hält viele zentrale Punkte der bisher bekannten Ampel-Vorhaben für die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik für nicht gerade aus einem Guss gemacht.

“Von einem hohen Mindestlohn profitiert vor allem der Staat”

Dabei waren die Unterschiede zwischen SPD, Grüne und FDP bei der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik gar nicht so groß. Es gab sogar relativ viele Gemeinsamkeiten, wollten doch alle die Grundsicherung menschenwürdiger machen, mehr Menschen aus der Armut holen und das Rentensystem stabilisieren. Herausgekommen ist freilich ein Kompromiss, aber einer, der nach  Einschätzung des Arbeitsmarktforschers Weber an der bisherigen staatlichen Subventionierung des Niedriglohnsektors festhält.

Da wäre die Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro, deren Wirkung laut Weber alles andere als sicher positiv ausfallen könnte. “Eine einmalige Erhöhung auf 12 Euro könnte sogar überambitioniert sein”, so der Arbeitsmarktforscher. Zwar habe sich die Einführung des Mindestlohns nicht negativ auf die Beschäftigung ausgewirkt, dennoch habe sich nichts nachhaltig an der bestehenden Lohnungleichheit verändert, da der Mindestlohn immer mit der Lohnentwicklung angepasst wurde. Ökonomisch sei es sinnvoll, den Mindestlohn anzuheben, das aber sollte schrittweise erfolgen – bei gleichzeitger Analyse der Auswirkungen. Sonst kann es Probleme zum Beispiel  bei den Langzeitarbeitslosen geben. “Denn bei 12 Euro Mindestlohn könnte die Langzeitarbeitslosigkeit, die durch Corona sowieso gestiegen ist, noch weiter zunehmen, weil manche Menschen dann gar keine Beschäftigung mehr finden”, so Weber. Er geht davon aus, dass die Betroffenen durch die Anhebung nicht unbedingt mehr Geld in der Tasche hätten – mit einem höheren Einkommen werden schließlich auch mehr Steuern und Sozialbeiträge fällig. “Von einem hohen Mindestlohn profitiert vor allem der Staat”, fasst Weber zusammen.

Eine staatliche Subvention, die zu Fehlanreizen führen könnte

Auch die Pläne, die Einkommensgrenze für Mini- und Midijobs – also jenen Bereich, für den es bei den Sozialbeiträgen geringere Sätze gibt – zu erhöhen, sieht der IAB-Forscher kritisch. Dies käme faktisch einer Ausweitung des Niedriglohnsektors gleich, sagt Weber. SPD und Grüne wollten Minijobs eigentlich weitgehend abschaffen,  weil sie sich als besonders krisenanfällig und nachteilig erwiesen haben. Die FDP wollte daran festhalten und konnte sich durchsetzen. Dass die Geringfügigkeitsgrenze nun erhöht werden soll, ist laut Weber nur logisch, wenn man den Mindestlohn erhöht. Andernfalls lohnt sich geringfügige Beschäftigung ja kaum. Dennoch kommen die Pläne nach Ansicht des Forschers einer großen Subventionierung von gering bezahlten und nicht voll sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung gleich. Schließlich sind Minijobs auch dann steuerfrei, wenn man zum Beispiel im Erstjobs ein extrem hohes Einkommen hat. Und besonders die Ausweitung für die Midijobs könnten sich nachteilig auswirken, weil es sich gar nicht lohnt, die Erwerbstätigkeit auszuweiten. Hintergrund ist die letzte Midijob-Reform der Großen Koalition im Juli 2019, seit der sich Midjobs gerade in Bezug auf die Rentenansprüche lohnen: Solange man in der sogenannten Gleitzone bis künftig 1.600 Euro arbeitet, zahlt man nur geringere Beiträge zur Rentenversicherung – man bekommt im Alter aber die vollen Rentenansprüche. Auch das ist quasi eine Art staatliche Subvention. Sogar eine, die zu Fehlanreizen führen könnte. Denn es könnte für einige Menschen mit einem geringfügig darüber liegenden Einkommen attraktiver sein, die Arbeitszeit so weit zu reduzieren, dass sie in die Gleitzone fallen – und so trotzdem von den vollen Rentenansprüchen profitieren.

Eine Abschaffung der Minijobs wäre laut Weber daher sinnvoller und ambitionierter gewesen. Denn dann werden Sozialabgaben ab dem ersten verdienten Euro fällig. Das könnte  zu einer dynamischen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt führen – mit einer besseren sozialen Absicherung und höheren Löhnen.

Grundsicherung und Zuverdienst könnten attraktiver werden als einer regulären Beschäftigung nachzugehen

Bleibt noch die Grundsicherung, die alle drei Ampel-Parteien neu ausgestalten wollten. Im Sondierungspapier ist hiervon nicht mehr viel zu finden. Lediglich eine Verbesserung der Zuverdienstmöglichkeiten ist ein Vorhaben, das spürbare Verbesserungen bringen könnte. Aber auch das heißt nicht, dass es weniger Leistungsbeziehende geben wird. Vielmehr könnte die Zahl der Aufstockerinnen und Aufstocker durch eine solche Maßnahme steigen, denn die Grundsicherungsleistungen bleiben ja bestehen. Wenn man die Zuverdienstgrenzen erhöht, setzt man nur nach oben eine höhere Grenze – was schlimmstenfalls zu Fehlanreizen führen kann. Und zwar erst Recht, da SPD, Grüne und FDP erwägen, die bisherigen Corona-Ausnahmen bei der Vermögensprüfung und den Regelungen zum Schonvermögenn fortzusetzen. Es könnte für manchen damit attraktiver sein, Grundsicherung und Zuverdienst zu wählen statt einer regulären Beschäftigung nachzugehen.

Und so könnte ausgerechnet die Koalition des Aufbruchs Millionen Menschen in Jobs halten, die nicht reichen, um den Lebensunterhalt zu decken. Mit entsprechend negativen Folgen für das gesetzlich Rentensystem, die nächste große Baustelle der möglichen Ampel-Regierung. Denn die Finanzierung der ersten Säule der Alterssicherung ist nur bis 2030 gesichert. Danach wird entweder das Rentenniveau sinken, müssten die Menschen noch länger arbeiten oder es müssten die Beiträge erheblich steigen. Die ersten beiden Punkte will die SPD nicht, letzteres die FDP auf keinen Fall. Geeinigt haben sich die Ampel-Parteien dennoch. “Es wird keine Rentenkürzungen und keine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters geben”, heißt es in dem gemeinsamen Papier. Ein Sieg für die SPD also. Und wie soll das bezahlt werden? Mit einer abgewandelten Aktienrente, wie sie die FDP vorgeschlagen hatte.

Reform der gesetzlichen Rentenversicherung

Denn die gesetzliche Rentenversicherung soll in eine teilweise Kapitaldeckung einsteigen und Geld an der Börse investieren. Zehn Milliarden Euro aus Haushaltsmitteln soll die DRV dafür nächstes Jahr bekommen und zudem die Möglichkeit, ihre Reserven anzulegen. Die waren auch in der Corona-Krise auf einen Rekordwert von 36 Milliarden Euro geklettert, es wäre also keine kleine Summe. Damit sich aber die Rentenversicherung am Kapitalmarkt nicht verzockt, soll das Ganze “reguliert” angelegt werden – was das heißt, ist unklar.

Zwar klingt der Ansatz überdenkenswert, immerhin würde tatsächlich die Möglichkeit geschaffen, dass die gesetzliche Rentenversicherung langfristig von den Renditen am Kapitelmarkt profitiert. Experten hatten für das Aktienrenten-Konzept der FDP ermittelt, dass die Rendite an der Börse bei im Schnitt sechs Prozent liegen könnte. Zum Vergleich: Im heutigen Umlagesystem sind durchschnittlich drei Prozent Rendite zu erwarten. Es könnte mit einem solchen Umbau in der ersten Säule der Alterssicherung also tatsächlich mehr Geld in die Kasse kommen, das dann wieder ganz klassisch umverteilt würde. So würden auch die Schwächen des ursprünglichen Aktiententen-Konzepts der FDP ausgeglichen.

Ein Rentenniveau von 48 Prozent ist dauerhaft nur zu halten, wenn die Beiträge steigen

Die Liberalen hatten zunächst vorgeschlagen, dass zwei Prozent der jeweiligen Beiträge der Beschäftigten am Kapitalmarkt investiert werden. Dies hätte aber zur Folge gehabt, dass die Beitragszahlenden quasi einen individuellen Anspruch auf die Börsengewinne gehabt hätten – mit dem Nachteil, dass alle, die nicht selbst einzahlen, aber wie Witwen, Waisen und Erwerbsgeminderte Versorgungsansprüche an die gesetzliche Rentenversicherung haben, leer ausgingen. Beim Einstieg in die Kapitaldeckung hingegen könnten alle profitieren – das ist gut.

Dennoch ist auch hier die Finanzierung völlig unklar. Was, wenn bis zum Jahr 2030 noch nicht ausreichend Gewinne am Kapitalmarkt erwirtschaftet werden, um das Rentenniveau halten zu können? Was, wenn die DRV sich an der Börse verzockt? Der Ökonom Clemens Fuest, Präsident des ifo-Instituts, glaubt nicht, dass das Konzept tragfähig ist. Er befürchtet, dass ein Rentenniveau von 48 Prozent dauerhaft nur zu halten sei, wenn auch die Beiträge steigen. Wichtig ist aber sowieso, dass der Arbeitsmarkt brummt – und möglichst viele Menschen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen. Doch dafür müsste eine Abkehr von der statischen Arbeitsmarktpolitik mit weniger Subventionen für bestimmte gering bezahlte Jobs und hohen staatlichen Transfers vollzogen werden – und das ist wohl mit dieser Dreier-Koalition nicht zu erwarten.

Tina Groll

Tina Groll arbeitet hauptberuflich als Redakteurin bei ZEIT ONLINE im Ressort Politik & Wirtschaft. 2008 zeichnete sie das Medium Magazin als eine der “Top 30 Journalisten unter 30 Jahren“ aus. Sie ist Mitglied im Deutschen Presserat sowie als Vorsitzende der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union tätig. Als Autorin von WIR SIND DER WANDEL beschäftigt sie sich mit der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Gesundheitspolitik.