Der deutsche Arbeitsmarkt braucht sie dringend

Bürofassade

Gut 600.000 Menschen sind aus der Ukraine bisher nach Deutschland geflohen. Viele Firmen möchten sie beschäftigen – doch schnell klappt die Vermittlung noch nicht.

Zwei Jahre Corona-Pandemie, nun ein Krieg mitten in Europa – doch der Arbeitsmarkt in Deutschland brummt. Fachkräfte fehlen allerorten und in immer mehr Berufen. Und immer weniger Deutsche wollen niedrig qualifizierte Jobs verrichten, die anstrengend sind. Jobs als Helfer:in bei der Spargel- oder Erdbeerernte oder in der Fleischindustrie sind daher wenig begehrt. In der Region Vechta und Cloppenburg zum Beispiel, in der es viel Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie gibt, stellt das zunehmend ein Problem dar. Viele Betriebe könnten zusätzliche Saisonkräfte gebrauchen. Warum also nicht Flüchtlinge aus der Ukraine einstellen? Immerhin sind mehr als 600.000 Menschen seit Beginn des Krieges bisher nach Deutschland geflohen, zeigen neue Zahlen des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf).

Wir sind der Wandel-NewsletterUm einige dieser Menschen kümmert sich Franz-Joseph Kettmann mit der von ihm gegründeten Vita Akademie. Der 2011 gegründete Bildungsanbieter aus Wittmund und Cloppenburg qualifiziert Menschen für den Arbeitsmarkt – Arbeitssuchende, Langzeitarbeitslose, Menschen in der beruflichen Umorientierung und Flüchtlinge. Dafür sind Kettmann und seine rund 150 Mitarbeitenden im gesamten Nordwesten aktiv: vom Münsterland bis zum schleswig-holsteinischen Steinburg. Gerade in den eher ländlich geprägten Kleinstädten, in denen es vielfach keine großen Arbeitgeber, sondern viele kleine und mittelständische Betriebe gibt, ist die Jobvermittlung eine Herausforderung. Hier kommt es auf den Einzelfall und auf die lokalen Netzwerke an.

Für viele Jobs ist nur ein Anlernen nötig

Der Bildungsanbieter erfüllt dabei eine wichtige Mittlerrolle zwischen zwischen Jobcenter, Ausländerbehörde und lokaler Wirtschaft. 2015 und 2016 sammelte das Unternehmen viele Erfahrungen bei der Qualifizierung und Arbeitsvermittlung von Geflüchteten vor allem aus Syrien, Afghanistan und Nordafrika. “Da haben wir gesehen, wie zentral Sprachkurse für die berufliche Integration sind. Sobald die Sprachkenntnisse vorhanden waren, klappte es auch mit der Integration in den Arbeitsmarkt. Mittlerweile haben viele Unternehmen in den Flüchtlingen von damals wichtige und heute gut integrierte Beschäftigte gefunden. Viele sind geblieben, manche haben in den Betrieben auch schon Karriere gemacht”, so Kettmann. Und jetzt könnte sich das Ganze mit den ukrainischen Flüchtlingen wiederholen – zumindest hoffen manche Betriebe darauf.

Mitten in der Spargel- und beginnenden Erdbeerernte fehlen im Nordwesten Arbeitskräfte in der Landwirtschaft. Auch die hiesige Fleischindustrie braucht Mitarbeitende, erzählt Kettmann. Ob Lager und Logistik, Verpackung oder Produktion: Für viele Jobs ist nur ein Anlernen nötig. Zwar sind Sprachkenntnisse ein Vorteil, aber oft nicht zwingende Herausforderung. Indes: Es fehlen die Flüchtlinge, die diese Jobs annehmen könnten.

Kinderbetreuung ist zentral

Das liegt vor allem an drei Gründen: Erstens sind mehr als 80 Prozent der geflohenen Menschen aus der Ukraine Frauen mit kleinen Kindern, die noch keinen Betreuungsplatz in einem Kindergarten haben. “Ohne einen Kitaplatz können die Mütter auch nicht arbeiten gehen”, so Kettmann. Doch gerade in den kleinen Kommunen auf dem Land sind neue Kitaplätze nicht schnell zu haben. Weder können die norddeutschen Kleinstädte schnell Räume, noch Personal beschaffen. Und die wenigen Plätze, die es gibt, sind meist schon lange vergeben, vor allem jetzt im Frühling, kurz vor dem Ende des Kitajahres. Vielerorts werden daher allenfalls die Kitagruppen erweitert, sofern dies mit dem Betreuungsschlüssel vereinbar ist.

Zweitens wissen viele Geflüchtete gar nicht, wie lange sie in Deutschland bleiben wollen. Ein großer Teil möchte schnell wieder nach Hause, zumal viele ukrainische Familien durch den Krieg derzeit getrennt und die Männer in der Ukraine geblieben sind. Manche haben sich sogar schon wieder auf den Weg nach Hause gemacht. Zwar fliehen nach wie vor Menschen aus den umkämpften Gebieten vor allem im Osten der Ukraine – mehr als 5,5 Millionen Menschen haben das Land verlassen –, aber nach Deutschland kommen nur mehr so viele Menschen wie zu Beginn des Krieges. Berlin hat bereits vor drei Wochen wegen der sinkenden Ankunftszahlen Notunterkünfte für ukrainische Flüchtlinge geschlossen.

Die fiktive Arbeitserlaubnis als Lösung

Und drittens findet noch gar keine Jobvermittlung statt. Sie scheitert bisher meist an bürokratischen Hürden. Aktuell haben die ukrainischen Flüchtlinge zwar eine Aufenthaltsgenehmigung, die Arbeitserlaubnis jedoch fehlt. Die gibt es erst nach der vollständigen Registrierung, wenn auch die biometrischen Daten erfasst sind. Doch dafür fehlen häufig immer noch Termine, weil die Ämter überlastet sind und die nötigen Geräte für die erkennungsdienstliche Erfassung fehlen. Denn die biometrische Datenerfassung erfolgt an sogenannten PIK-Stationen – das sind Apparate, mit denen auch die Fingerabdrücke der Geflüchteten gescannt werden. 363 davon gibt es bundesweit in den Ausländerbehörden, dazu 323 in den Erstaufnahmeeinrichtungen, weitere 163 sind im Zuge der vielen Geflüchteten aus der Ukraine jetzt neu vom Bund zur Verfügung gestellt worden. Einige Städte und Kommunen haben zwar bereits entschieden, auf die erkennungsdienstliche Behandlung der ukrainischen Kriegsflüchtlinge zu verzichten, vor allem bei Minderjährigen. Dennoch kommen viele Behörden trotzdem nicht hinterher.

Die Landkreise Vechta und Cloppenburg gehen daher einen anderen Weg. Die dortigen Kreisverwaltungen haben einfach eine Allgemeinverfügung erlassen, mit der die Ukrainer:innen, die in Cloppenburg und Vechta ihren Wohnsitz anmelden, eine sogenannte “fiktive Arbeitserlaubnis” haben. Diese gilt bis Ende Juni und ermöglicht es den Menschen, sofort eine Beschäftigung aufzunehmen.

Firmen warten auf Arbeitskräfte aus Nachbarländern wie der Ukraine

“Die fiktive Arbeitserlaubnis ist wirklich eine Erleichterung”, so der zweite Vita Akademie-Geschäftsführer Ansgar Kloppmann.  Ein Fleischbetrieb aus Garrel konnte so sofort zwei Ukrainerinnen in der Verpackungsabteilung einstellen. Die Frauen seien froh gewesen, ihren Lebensunterhalt in Deutschland nun eigenständig finanzieren zu können, erzählt der Arbeitsmarktvermittler. Auch eine Erzieherin hätte auf diese Weise schnell Arbeit finden können. Sie soll sich in einer Kita nun zunächst um ukrainische Kinder kümmern. Anfragen gibt es auch aus der Pflege. Pflegedienste und -heime hoffen, dass unter den Geflüchteten examinierte Kräfte sind. Die werden bekanntermaßen dringend gesucht.

Auch die Bundesagentur für Arbeit geht davon aus, dass unter den Geflohenen viele potentielle Pflegekräfte sein könnten. Ihr liegen aber noch keine aussagekräften Daten über das Qualifikationsniveau oder überhaupt von ukrainischen Flüchtlingen vor. Denn erst rund 2.500 Ukrainer:innen waren bei einem Jobcenter. Das könnte sich aber ab dem 1. Juni rasch ändern. Denn dann können die Ukraine-Flüchtlinge Grundsicherung erhalten, wie es ein gerade vom Kabinett gebilligter Gesetzesentwurf vorsieht. Bisher erhalten sie nur geringere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Die Bundesagentur für Arbeit rechnet mit 150.000 bis 200.000 zusätzlichen Bedarfsgemeinschaften. In den Jobcentern soll dann auch eine Grundaufnahme gemacht und erfasst werden, welche beruflichen Qualifikationen die Geflüchteten haben. Gut Hunderttausend Ukrainer:innen könnten nach derzeitigen Schätzungen der BA dann in den deutschen Arbeitsmarkt vermittelt werden. Das sei alles in allem gut verkraftbar, denn trotz des Krieges in der Ukraine mit entsprechenden Auswirkungen in manchen Branchen, ist der Nachholbedarf auf dem Arbeitsmarkt nach der Corona-Pandemie hoch. Die Firmen haben auf weitere Arbeitskräfte aus Nachbarländern wie der Ukraine eher gewartet, heißt es bei der BA.

Ansprechpartner:innen, die unbürokratisch helfen

Viele von ihnen dürften eher hoch qualifiziert sein, denn Frauen in der Ukraine sind im Schnitt sehr gut ausgebildet. Zwar üben Ukrainerinnen wie Frauen in Deutschland tendenziell überwiegend klassische Frauenberufe aus – also Lehrerin, Erzieherin, Krankenschwester etwa. Diese Berufe erfordern in der Ukraine aber häufig eine akademische Ausbildung. Trotzdem gilt es nicht als sehr wahrscheinlich, dass ukrainische Krankenschwestern schon bald Nachtschichten in deutschen Pflegeheimen übernehmen werden. Zum einen gibt es häufig Sprachbarrieren, zum anderen müssten noch die ukrainischen Abschlüsse anerkannt werden – und das ist insbesondere in medizinischen Berufen nicht immer ganz einfach und meist nicht schnell möglich. Dennoch will die Bundesagentur für Arbeit die Geflüchteten nah am Qualifikationsprofil vermitteln und Fehler aus dem Jahr 2015 vermeiden. Damals dauerte recht lange, bis die Geflüchteten flächendeckend Sprachkurse erhielten. Viele Menschen hatten noch zwei Jahren danach keine Arbeitsstelle gefunden. Ein Szenario, das sich für die Ukrainer:innen nicht wiederholen soll. Damit das nicht passiert, muss die Kinderbetreuung schnellstmöglich organisiert werden. Eine enge Kooperation mit den Kommunen soll daher erfolgen.

Die Städte hätten sich gemeinsam mit den Ländern bereits auf den Weg gemacht, Kinderbetreuung und Unterricht für ukrainische Kinder zu organisieren, hieß es kürzlich vom Deutschen Städtetag. Auch dieser fordert schnelle Anerkennungsverfahren für Lehrkräfte und Erzieherinnen aus der Ukraine. Und auch das Deutsche Handwerk fordert Unterstützung für kleine und mittlere Betriebe, die Geflüchteten eine berufliche Perspektive bieten wollen – nötig sei etwa ein bundesweites und dauerhaftes Programm, mit dem Integrationsbegleiter:innen sowie Kümmerer-Strukturen insgesamt finanziert werden sollen, sagte Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer kürzlich gegenüber dem Handelsblatt. Die Hoffnung dahinter: Sowohl die Unternehmen als auch die Geflüchteten sollen konkrete Ansprechpartner:innen vor Ort haben, die unbürokratisch helfen können.

Eben Partner wie Franz-Josef Kettmann und seine Vita-Akademie. Mit unbürokratischer Hilfe kennt sich der Bildungsexperte aus Vechta aus. In den ersten Kriegswochen organisierte er kurzerhand selbst Hilfe für die Ukraine und charterte 32 Kleinbusse. Er brachte Hilfsgüter an die ukrainisch-polnische Grenze – und geflüchtete Menschen von dort nach Nordwestdeutschland. 174 Menschen, vor allem Frauen, kleine Kinder und alte Leute. Kettmann hat nicht mehr zu allen Kontakt, aber zu vielen. Etwa 75 sind überhaupt im erwerbsfähigen Alter. Gut zehn von ihnen haben mittlerweile einen Job in der Region gefunden, die anderen warten auf Sprachkurse und Kinderbetreuung. Oder die Möglichkeit, nach Hause fahren zu können.

Tina Groll

Tina Groll arbeitet hauptberuflich als Redakteurin bei ZEIT ONLINE im Ressort Politik & Wirtschaft. 2008 zeichnete sie das Medium Magazin als eine der “Top 30 Journalisten unter 30 Jahren“ aus. Sie ist Mitglied im Deutschen Presserat sowie als Vorsitzende der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union tätig. Als Autorin von WIR SIND DER WANDEL beschäftigt sie sich mit der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Gesundheitspolitik.