Zwei Drittel der Beschäftigten fühlen sich durch ständige Erreichbarkeit belastet, stellt eine neue Studie fest. Besonders leiden Partner und Kinder unter den ständigen Störungen aus dem Job. Wie kann man sich schützen?
Jeder zweite Berufstätige liest mittlerweile auch im Feierabend und am Wochenende regelmäßig seine Job-Mails. Gut 66 Prozent und damit die Mehrheit der Beschäftigten empfinden die ständige Erreichbarkeit als eine Belastung für ihr Privat- und Familienlieben. Das stellt eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presseagentur (dpa) fest. Nur 42 Prozent der Erwerbstätigen werden nicht in ihrer Freizeit mit dienstlichen Angelegenheiten belästigt. Die Initiative Gesundheit und Arbeit (iga), zu der neben dem Verband der Ersatzkassen auch die Gesetzliche Unfallversicherung, der AOK-Bundesverband und der BKK Dachverband gehören, fand außerdem heraus: Auch die gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch die ständige Erreichbarkeit sind groß. Schaut man sich die Untersuchungen genauer an, stellt man fest: Unter den ständigen Störungen leiden vor allem auch die Partner und Kinder der Befragten. Sie fühlen sich beeinträchtigt, wenn dienstliche Anrufe oder Nachrichten die gemeinsame Zeit klauen. Oder der Partner oder das Elternteil durch die teils exzessiven Anforderungen durch die Arbeit am Ende der Woche so erschöpft ist, dass gemeinsame Freizeitaktivitäten nicht mehr regelmäßig möglich sind.
Die Studien zeigen allerdings auch: In der Regel sind die Arbeitsaufträge nicht vom Chef angewiesen. Die meisten arbeiten, weil sie sich dazu verpflichtet fühlen – entweder, weil sie die Kollegen nicht alleine lassen wollen oder weil Personalersatz fehlt. Oder der Arbeitsvertrag nur befristet ist. Oder es alle so machen und man nicht der einzige sein will, der eine deutliche Grenze zieht und möglicherweise daher für faul gehalten wird. Aber dieses Verhalten geht zu Lasten des Privatlebens – und der Gesundheit. Es lohnt sich daher, seine Lebensumständen einer Analyse zu unterziehen. Welche Anforderungen stelle ich an mich, welche werden an mich gestellt? Wie priorisiere ich – und gibt es Anforderungen, die ich gar nicht erfüllen kann oder möchte, weil ich mich dadurch fremdbestimmt fühle und diese gar nicht so wichtig sind? Entscheidend ist auch, den Partner miteinzubeziehen. Und gegebenenfalls Aufgaben anders zu verteilen oder ganz abzugeben.
Ein Auszug aus Kinder + Karriere = Konflikt? Denkanstöße für eine deutsche Debatte von Tina Groll.
Was passiert bei Stress?
Der Mediziner Hans Selye fand heraus, dass Tiere in bedrohlichen Situationen bestimmte körperliche Reaktionen zeigten. Er erkannte, dass auch Menschen in Situationen, die sie als gefährlich oder bedrohlich einschätzten, körperlich reagierten. In einem Essay in dem Magazin Nature verwendete er 1936 erstmals den Begriff Stress und wurde damit zum „Vater der Stressforschung“. Heute unterscheiden Stressforscher zwischen Belastung und Beanspruchung, weil der Begriff Stress nicht zwischen Ursache und Wirkung unterscheidet. Belastung meint eine Bedrohung von außen, die Stress hervorruft; Beanspruchung bezeichnet die Reaktionen innerhalb des Körpers.
Stress entsteht, wenn eine Bedrohung von außen erfolgt und nicht genügend Ressourcen wahrgenommen werden, um diese zu bewältigen. Es werden verschiedene Hormone im Gehirn freigesetzt. Unter anderem werden Adrenalin, Noradrenalin und Corticoide ausgeschüttet, das Herz schlägt schneller, die Durchblutung steigt. Dadurch ist die Konzentration geschärft. Glukose wird freigesetzt. Der Körper schränkt die Verdauung ein, auch das Immunsystem wird etwas heruntergefahren, denn so spart der Körper Energie. Dagegen beschleunigt sich die Blutgerinnung. Alles ist auf Flucht oder Kampf ausgerichtet. Komplexes, ausgewogenes, entspanntes Denken ist in diesem Zustand nur schwer möglich.
Dauerstress bedeutet, permanent in dem oben beschriebenen angespannten Zustand zu sein. Dies wird nach einer bestimmten Zeit zu einem Problem. Bewegung kann helfen, Stress bzw. Stresshormone abzubauen. Darum eignet sich bei Stress besonders gut Ausdauersport. Der Arbeitspsychologe Tim Hagemann sagt: „Man kann täglich Stress haben, das ist kein Problem, solange Erholungsphasen folgen.“ Problematisch werde Stress erst, wenn man diesen oder die als problematisch empfundene Situation nicht mehr bewältigen kann. Wenn also dauerhaft Ressourcen wie etwa Zeit, Geld oder Möglichkeiten fehlen und sich das Gefühl von Angst und Unsicherheit ausbreitet. Wer sich ständig wie getrieben fühlt, findet keine Erholung mehr und wird leichter krank. Bei positivem Stress dagegen genießt man den Adrenalinkick und es stellt sich Zufriedenheit ein, wenn die Herausforderung gemeistert wurde.
Was kann man tun, um Stress besser zu bewältigen?
Der Dreh- und Angelpunkt ist der wahrgenommene und faktisch vorhandene Handlungsspielraum. Dieser kann beispielsweise bei Stress am Arbeitsplatz zu beeinflussen sein, wenn man Aufgaben anders verteilen kann und selbst entscheidet, wann man welche Aufgabe erledigt. Das ist bei Arbeitsplätzen an einer Maschine oft nicht der Fall. Für den Handlungsspielraum entscheidend ist aber auch die finanzielle Situation. Wer nur ein geringes Einkommen hat, fühlt sich bei vielen Problemen schneller in der Existenz bedroht als jemand, der über ein ausreichendes oder hohes Einkommen verfügt. Laut Stressforscher Hagemann gibt es grundsätzlich zwei Strategien, um mit Stress klarzukommen. Die eine wird aktive Bewältigung genannt: Man kann das Arbeitspensum reduzieren oder versuchen, effizienter zu arbeiten. Weil das häufig nicht möglich ist, hilft die zweite Strategie – kognitive Umdeutung. Man versucht, die bedrohliche Situation anders wahrzunehmen. Fokussiert sich auf das Positive, lenkt die Aufmerksamkeit vom Negativen weg. Diese zweite Strategie ist für berufstätige Eltern, die etwa aus finanziellen Gründen ihre berufliche Situation nicht sofort ändern können, am ehesten umsetzbar.
Generell gilt aber: Wenn etwa im Job oder zu Hause die Dauerstressbelastung zu groß ist, weil einfach zu viel ansteht und man den Aufgaben ganz alleine ausgesetzt ist – etwa als Alleinerziehender – dann ist auch eine kognitive Umdeutung nur begrenzt wirksam. Denn zu viel Arbeit wird so nicht weniger. Hier ist die einzige Möglichkeit, sich emotional von den Stressoren bei der Arbeit zu distanzieren und die eigenen Ansprüche herabzuschrauben. Je perfektionistischer man versucht, als Elternteil zu funktionieren und im Karrierekampf vorn mit dabei zu sein, desto eher stellt sich ein Tunnelblick ein, bei dem man nur noch die Misserfolge und nicht die Erfolge sieht.
Wie kann man sich im Alltag mehr Verschnaufpausen schaffen?
Die Burn-out-Expertin und zweifache Mutter, Carola Kleinschmidt, rät berufstätigen Eltern, klar zwischen dem Job- und Familienlieben zu trennen. Auf keinen Fall sollte man Entspannung als eine Belohnung für die getane Arbeit ansehen. „Viele haben die verrückte Idee, dass sie sich erst entspannen dürften, wenn alles erledigt sei. Entspannung soll eine Belohnung sein. Aber womit will man denn fertig werden? Mit dem Leben? Wenn man das konsequent zu Ende denkt, dann dürfte man sich nie etwas Gutes tun. Besser ist es, sich daran zu erinnern, was einem Spaß macht.“ Sie empfiehlt „die Methode der kleinen Schritte“, denn nur eine Veränderung in kleinen Schritten ist realistisch und für die meisten berufstätigen Eltern praktikabel.
Bei dieser Methode baut man sich im ersten Schritt bewusst kleine Pausen in den Alltag ein. Beispielsweise auf dem Rückweg von der Arbeit zur Kita zehn Minuten in einem Eiscafé einen Espresso trinken. Laut Kleinschmidt helfe so eine Pause, „gedanklich und emotional zwischen Job und Familie zu wechseln. Andere richten sich einen kurzen Spaziergang in der Mittagspause ein, manche gehen in der Pause kurz bummeln. Und wieder andere schauen einfach mal zehn Minuten in die Luft. Ein guter Tipp ist es auch, Alltagsaufgaben mit etwas Angenehmen zu verbinden. Etwa den Wochenendeinkauf mit einem Bummel über den Markt mit der Freundin.“
Auch wenn das sehr einfach klingt, sei die Wirkung groß – vorausgesetzt man verfügt noch über genügend Resilienz und befindet sich noch nicht in einer Erschöpfungsspirale. Je häufiger und regelmäßiger man sich kleine Pausen in den Alltag einbaut, desto stärker wird auch die wohltuende Wirkung, ist die Stressexpertin überzeugt. „Man spürt sich wieder selbst und nimmt die eigenen Bedürfnisse besser wahr. Ich persönlich habe gemerkt, dass ich wieder klarer denken und bessere Prioritäten setzen konnte. Das hat mich noch mehr ins Gleichgewicht gebracht.“ Vor allem stelle man weniger überzogene Ansprüche an sich selbst stellen und verheddere sich weniger in Anforderungen von außen. Denn die allermeisten Eltern müssen arbeiten gehen – meist in Vollzeit oder in vollzeitnahen Beschäftigungsverhältnissen, um ausreichend Geld zu verdienen.
Und um den Kindern ein verlässlicher und gesunder Partner als Elternteil sein zu können, bleibt uns keine andere Wahl. „Man muss sich aktiv für Erholungspausen entscheiden, in denen man sich entspannt, klar denken kann und mit einer gewissen inneren Distanz zum turbulenten Alltag gute Prioritäten setzen kann. Nur so kommt man gesund durch unser volles Leben ohne durchzudrehen. Zu warten, bis es von alleine ruhiger wird, ist vergeblich“, sagt die Burn-out-Expertin.
Lebenskunst ist
eine Pause zu machen
bevor dir jemand sagt
du hättest eine machen sollen.
erholsame Rituale einbauen und auch mal ruhig bewusst alleine Mittagspause (offline “open air”) machen (oder als Alleinunternehmer “unter Leuten”)