Mit Hochgeschwindigkeit in die Zukunft

Zwei Radrennfahrer rasen vorbei

Eine entscheidende Frage ist heute: Wie machen wir unsere Organisation schneller? Ein Weg ist der systematische Abbau hausgemachter Bürokratie. Weshalb das so wichtig ist, weiß Anne M. Schüller.

Ein Gastbeitrag von Anne M. Schüller

Stolz verkündet mir der Geschäftsführer eines großen Mittelstandsunternehmens im Briefinggespräch zu einem Workshop, dass seine Organisation mit dem Abbau unnötiger interner Bürokratie bereits ganz schön weit ist. Als dann ein Bereichsleiter (!) nach der Veranstaltung formlos bei mir ein paar Bücher für seine Abteilung bestellt, sieht die Situation ganz anders aus. Denn kurz darauf meldet sich eine Sachbearbeiterin bei mir, um mir mitzuteilen, dass das so bei ihnen nicht geht! Sie erklärt, dass der Bereichsleiter nicht das Recht hatte, eigenmächtig einzukaufen, da Bestellungen generell über den Zentraleinkauf ausgelöst werden müssen. Dem Telefonat folgt ein stundenlanger E-Mail-Verkehr, um die Bestellung „der guten Ordnung halber“ mithilfe der vorgeschriebenen Formulare „offiziell“ zu machen.

Was diese „gute Ordnung“ tatsächlich kostet und wie viel Zeit sie unnötigerweise verschlingt, wird kaum berechnet

Wir sind der Wandel-NewsletterIn vielen Unternehmen haben sich über die Jahre Unmengen von Regeln, Routinen und Regularien aufgetürmt. Ganze Abteilungen sind zu nichts anderem da, als andere zu kontrollieren. Doch mit Kontrolle investiert man in die Vergangenheit – nicht in die Zukunft. Kontrollen haben nur im Blick, was sie kontrollieren, Kennzahlen nur das, was sie messen, anderes, wichtigeres, zukunftsrelevantes jedoch nicht.

Und auch wenn Regeln zwar Chaos ordnen, sie verhindern auch Alternativen. Ferner erzeugt Kontrolle immer mehr Kontrolle, was sie zum Totengräber für Innovationen macht. Schlimmer noch: Vorgaben zu folgen, führt zu „erlernter Hilflosigkeit“, ist der amerikanische Psychologe Martin E. Seligman überzeugt. Dann geht Selbstwirksamkeit verloren, das Engagement sinkt, die Menschen erlahmen und stumpfen ab. Demotivation und Leistungserosion sind die Folge.

Oft werden Regeln, Standards und Normen aus purer Gewohnheit beibehalten

Allenthalben werden die Beschäftigten mit Verfahrensvorschriften, Reportings und Kennzahlenfüttern beschäftigt, statt ihnen den Rücken freizuhalten für das, was wirklich zählt: Die Arbeit an den Kund:innen. Denn sie sind es, die das Geld in die Kasse bringen. Intern produziert man nur Kosten. Doch je größer die Organisation, desto mehr Arbeitszeit verbringen die Mitarbeitenden rein mit dem Bedienen des Apparats.

Oft werden Regeln, Standards und Normen auch aus purer Gewohnheit beibehalten, obwohl sie längst veraltet sind. Das betrifft vor allem Zentralisierungsmaßnahmen. Wie es dazu kommt? Hier ein paar Statements:

  • „Das haben wir immer schon so gemacht.“ – Man weiß nicht mal mehr, wer das einst eingeführt hat, es wurde aber noch nie infrage gestellt.
  • „Die Revision will das so.“ – Nein, das stimmt nicht! Es handelt sich um eine Vermutung, man hat die Revision nicht einmal dazu befragt.
  • „Das lassen unsere Compliance Regeln nicht zu.“ – Da ist jemand übervorsichtig oder zu bequem und schiebt ein Regelwerk vor, dass es so gar nicht gibt.
  • „Darüber braucht man mit dem Chef gar nicht reden.“ – Eine reine Fehleinschätzung, die aus Unterwürfigkeit oder einem Mangel an Mut entsteht.

Ausufernde Verfahrensweisen und Vorschriftenberge unterstreichen die Wichtigkeit einer Abteilung

Cover für Überall, nur nicht im BüroFür Administrationsfirlefanz, Genehmigungsterror und Irrläufe im Vorschriftengestrüpp hat niemand noch Zeit. Ein radikaler unternehmensweiter Abbau selbsterschaffener Bürokratie ist daher existenziell. Natürlich stellt man Leitplanken auf, damit niemand in den Abgrund gerät. Das bedeutet aber nicht, dass alles bürokratisch festgezurrt und kontrolliert werden muss. Denn je träger ein Unternehmen, desto anfälliger ist es für Überholmanöver.

Durch bedachtes Ausmisten lassen sich eine Menge Kosten sparen – und man verdient sich zugleich das Geld für Innovationen. So kam bei einer Versicherungsgesellschaft heraus, dass von den 120 existierenden Broschüren lediglich 18 in der täglichen Arbeit der Makler:innen eingesetzt wurden. Da fragt man sich: Wie kann es überhaupt zu solchen Auswüchsen kommen?

Ausufernde Verfahrensweisen und Vorschriftenberge unterstreichen die Wichtigkeit einer Abteilung, sorgen für Bedeutungserhöhung und sichern die Stellung. Durch eine aufgeblähte Mess- und Steuerungsbürokratie erhalten die einzelnen Bereiche ja überhaupt erst ihre Daseinsberechtigung. Projekte werden künstlich aufgebauscht, um Ansehen und Einfluss zu stärken. Was man erschaffen hat, verteidigt man eisern, um seine Pfründe zu sichern – selbst dann, wenn es der Zukunft der Firma schadet.

Widerstände sind vorprogrammiert

Um den Abbau hausgemachter Bürokratie unternehmensweit in Angriff zu nehmen, ist eine schnell losstürmende Einsatztruppe perfekt. Sie gehört zu keiner Business Unit, sondern agiert bereichsübergreifend, vieles ist ja miteinander vernetzt. Bei einem solchen Programm werden zwangsläufig Missstände entdeckt; Widerstände sind demnach vorprogrammiert. Deshalb ist zu beachten:

  • Die Taskforce darf von Bereichsleiter:innen nicht an ihrer Arbeit gehindert werden.
  • Das Team muss selbstorganisiert arbeiten, damit es schnell Fahrt aufnehmen kann.
  • Es sollte auf aufwendige Berichtsmaßnahmen und umfängliche Kontrollen verzichtet werden.
  • Experimente und Probierphasen und damit fehlertolerantes Lernen sollten zugelassen werden.
  • Die unbedingte Rückendeckung der Geschäftsleitung ist absolut essenziell.
  • Auch sollten solche Projekte niemals von einer externen Beratercrew gemacht werden.

Neben Vorwärtsdenker:innen und Übermorgengestalter:innen sind Gamechanger:innen aus dem Kreis der jungen Talente für diese Aufgabe wie geschaffen, weil sie nichts Altes verteidigen müssen. Smarte Praktikant:innen mit unverstelltem Blick können das entscheidende Fünkchen Genialität beisteuern, wenn man sie mitmachen lässt.

Das kluge Weglassen ist hohe Kunst

Wer denkt, die einzelnen Abteilungen sollten sich selbst um Derartiges kümmern, liegt falsch. Genau das wird nicht klappen. Manager:innen neigen zum Hinzufügen und Mehren, nicht zum Ausmerzen und Reduzieren. Das Mehr ist immer ein Zeichen von Geltung und Macht. Zudem ist die Addition der einfachste Weg, es allen recht zu machen und niemanden zu verprellen. Das kluge Weglassen hingegen ist hohe Kunst.

Ein Bürokratieabbauteam packt vor allem überholte Abläufe an, zum Beispiel so:

  • Bisher dauert die Abwicklung von … eine Woche. Wie schaffen wir das künftig an einem Tag?
  • Bislang durchlaufen Bewilligungen bei uns drei Instanzen. Wie schaffen wir das mit einer Instanz?
  • Welche der üblichen Reportings werden wirklich gebraucht? Und welche können weg, um Zeit zu sparen?
  • Welche Kennzahlen sind absolut nötig? Und welche sind nichts als Selbstbeschäftigungsbürokratie?

Zum Start fängt man am besten dort an, wo sich schnell was bewegen lässt. Dazu nutzt man, siehe Abbildung, eine Starfish-Matrix. Die Spalten tragen dabei folgende Bezeichnungen:

  • Keep: Was sollten wir beibehalten, weil es gut funktioniert?
  • More: Was sollten wir verstärken oder künftig verbessern?
  • Start: Was sollten wir beginnen, ganz neu oder anders tun?
  • Stop: Wovon sollten wir uns trennen, weil es ineffizient ist?
  • Less: Was sollten wir verringern, verkürzen oder weniger tun?

Und noch ein Extratipp: Um die volle Energie auf das Neue zu lenken, kann es sinnvoll sein, sich von abgewählten Vorgehensweisen achtsam zu trennen. Die hatten ja auch mal ihr Gutes. Deshalb gilt es, Verfahren, von denen man Abschied nimmt oder Konzepte, die eingestampft werden müssen, in Würde zu Grabe zu tragen. Beim Innovationslabor X der Google-Mutter Alphabet gibt es dafür den „Dia de los Muertos“. So wie die Mexikaner zu Ehren der Verstorbenen feiern, so beerdigt man bei Google die nicht umgesetzten Projekte mit ausgelassener Freude.

 

Anne M. Schüller

Anne M. Schüller, Keynote-Speakerin, Bestsellerautorin und Businesscoach, gilt als eine der führenden Expertinnen für „Touchpoint Management“ und kundenfokussierte Unternehmenstransformation. Der Gastbeitrag stammt aus dem Buch Bahn frei für Übermorgengestalter.

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Unter der Autor:innen-Bezeichnung REDAKTION veröffentlichen wir Gastbeiträge sowie Agenturmeldungen, die nicht von uns erstellt, allerdings von uns redigiert wurden. Das Online-Magazin "Wir sind der Wandel" wurde im August 2020 von der Wirtschaftsjournalistin und SPIEGEL-Bestsellerautorin Sabine Hockling ins Leben gerufen. Das Online-Magazin kuratiert Nachrichten und begleitet Unternehmen, die sich dem Wandel der neuen Arbeitswelt stellen.