„Die Pandemie ist lediglich das Vorspiel zu einer viel umfassenderen, größeren Krise“

Frau in Unterführung

Wir sprachen mit dem Philosophen Jean-Pierre Wils über das Auseinanderdriften unserer Gesellschaft – und was wir dagegen tun können.

Wir sind der Wandel: Corona hat einen Teil der Gesellschaft bereits zu Beginn der Pandemie in eine tiefe Krise gestürzt. Andere kamen – zumindest am Anfang – besser mit der Situation zurecht. Was macht hier den Unterschied?

Jean-Pierre Wils: Vor der Pandemie haben wir als Gesellschaft viele Jahrzehnte im Vorwärtsmodus gelebt, waren auf Reichweitenvergrößerung fokussiert. Ob das private, ökonomische oder technologische Tempo, es wurde alles immer schneller. Corona bremste diese Entwicklung abrupt ab, was in der Anfangsphase auf viele positiv wirkte. Gleichzeitig ist solch ein Innehalten für eine Gesellschaft der Moderne, eine fast unheimliche Erfahrung. Insofern war die Unterbrechung tiefgreifend und etwas völlig Außergewöhnliches.

Die einen atmeten am Anfang der Pandemie auf, empfanden den Cut erholend und verbrachten mehr Zeit in und mit der Familie. Vielerorts zeichnete sich sogar eine nachbarschaftliche Solidarität und Hilfsbereitschaft ab, was nicht unseren Lebensgewohnheiten entsprach. Man könnte fast sagen, es war – anfangs – eine euphorische Stimmung vorhanden.

Es keimte aber alsbald auch ein Widerstand gegen das Anormale dieser Situation. Je mehr die Menschen von Regeln und Einschränkungen genervt waren, desto mehr steigerte sich die Sehnsucht nach einem Zustand „vor der Pandemie“. Die Devise lautete: Zurück zur Normalität. Dabei gab es zwei Richtungen: Die einen glaubten, dass wir die Pandemie bald im Griff haben und wieder zu unserem Lebensstil zurückkehren würden. Die anderen reagierten wesentlich aggressiver, suchten eine Ersatzerklärung für das ganze Elend und lehnten sich zunehmend in den populistischen Milieus und den verschwörungstheoretischen Kontexten heftig auf.

Die Gesellschaft war sehr unterschiedlich mit den Belastungen dieses pandemischen Zustands konfrontiert

Hier wurde eine Krise deutlich, die ihren Ursprung bereits vor der Pandemie hatte: Eine Erschöpfung, verursacht durch das enorme Tempo, die viele aus der Kurve warf. Ein Unbehagen, weil wir mit der Globalisierung ohne Maß und Ordnung buchstäblich an unsere Grenzen kamen. Parallel dazu traten gravierende soziale Spannungen auf. Ob Umsatzeinbrüche, enger Wohnraum, ein Gesundheitssystem, das mühsam versuchte, mit der Pandemie Schritt zu halten – die Gesellschaft war sehr unterschiedlich mit den Belastungen dieses pandemischen Zustands konfrontiert. In dieser Krisenzeit deutete sich an, dass das Zeitalter der Illusion im Grunde vorbei war: Es knirschte überall im Gebälk.

Wir sind der Wandel: Dann ist die Pandemie nur das Vorspiel zu einer viel umfassenderen Krise?

Wils: Mit der Globalisierung war das Vertrauen verbunden, dass die hochkomplexen globalen, digitalisierten Netzwerke unter allen Umständen funktionieren; und die Lieferketten in Stein gemeißelt sind. Doch plötzlich muss nur ein Containerschiff im Suez-Kanal quer stehen und alles kommt ins Trudeln. Und es zeigte sich, dass die Versorgung mit Medikamenten wegen der Externalisierung ihrer Herstellung schon längst ein Problem geworden war. Es wäre jetzt zynisch zu sagen, gut, dass es die Pandemie gab, die uns auf diese Abhängigkeit hinwies. Wünschenswert wäre gewesen, wenn es Corona nicht gebraucht hätte, um festzustellen, dass es so nicht weitergehen kann. Und eigentlich wussten wir schon längst, dass etwas nicht stimmt. Denn die Pandemie ist lediglich das Vorspiel zu einer viel umfassenderen, größeren Krise, die Klimakrise heißt. Insofern war Corona ein Eye-Opener. Allerdings habe ich das ungute Gefühl, dass viele Menschen ihre Augen erneut verschließen. Von den guten Vorsätzen bleibt wenig übrig.


Führung ist in Zeiten des Wandels eine Herausforderung. Wie gute Führung gelingen kann und welche Herausforderungen Führungskräfte bewältigen müssen, darüber spricht Sabine Hockling in der Serie CHEFSACHE.


Wir sind der Wandel: Ist unsere Gesellschaft nicht viel zu egoistisch für eine Kultur der Nachdenklichkeit und der Verlangsamung, die sich an sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit orientiert? Es macht doch wenig Hoffnung, wenn man sich beispielsweise die Neuzulassungen von SUVs anschaut. Oder auch, wie schnell die Gesellschaft das Interesse an Themen wie die Flüchtlingskrise oder aktuell den Krieg in der Ukraine verliert.

Wils: Der Mensch ist nicht in der Lage, ständig in einer emotionalen Alarmbereitschaft zu sein – und sollte er auch nicht. Und weil ein solches Alarmgefühl wenig nachhaltig ist, können wir es auch so gut wie gar nicht in den eigenen Motivationshaushalt verankern. Deshalb hält das Gefühl der Erschütterung auch nicht lange an. Auch neigen wir dazu, schnell zur Kompensation zu greifen: Wir leben in einer Kultur, die durch ein hohes Niveau an emotionalisierten Konsum gekennzeichnet ist. Der SUV zum Beispiel ist für sehr viele Menschen ein mobiles Zuhause, das mit erheblichem Luxus einhergeht. Man fühlt sich durch die Lage des Autos buchstäblich höhergestellt. Das heißt, Autos werden immer mehr zu mobilen Raumstationen, in denen Menschen sich von der Außenwelt abkapseln und in eine psychologische Wohlfühl-Verfassung flüchten können. Das ist ein Signum für eine Haltung, die tief in unseren Alltagspraktiken eingelassen ist: sich abzuschotten, um die Realitäten zu leugnen. Freud würde jetzt sagen, es fände eine Rückkehr in die Gebärmutter statt. Man kehrt zurück in den Uterus, man richtet eine Barrikade gegen die ungemütliche Welt auf.

Wir sind der Wandel: Sind wir als Gesellschaft hoffnungslos verloren?

Wils: Wir sind nicht hoffnungslos verloren. Auch kann das Unbehagen produktiv sein, wenn man eben nicht versucht, sich an Weggabelungen immer wieder in Illusionswelten zu flüchten. Zum Beispiel in die Illusion, dass wir die ökologischen Probleme zukünftig durch grüne Technologien lösen können. Vielmehr benötigen wir die Bereitschaft, unsere Lebensweise kritisch unter die Lupe zu nehmen, denn da gibt es Unschönes zu entdecken. Dazu sollte jeder sich konkret die Frage stellen, inwieweit sein Lebensstil überhaupt ökologisch kompatibel ist – was er vermutlich nicht sein wird. Diese erste Prüfung muss jeder für sich vornehmen, was ungeheuer schwer, aber nicht unmöglich ist.


Jean-Pierre Wils

Jean-Pierre Wils lehrt Philosophische Ethik und Kulturphilosophie an der Radboud Universität in Nijmegen. Er gibt seit 2021 die „Scheidewege. Schriften für Skepsis und Kritik“ heraus und ist Mitglied im deutschen PEN. Sein Buch Der Große Riss. Wie die Gesellschaft auseinanderdriftet und was wir dagegen tun müssen. Ein Essay ist jüngst im Hirzel Verlag erschienen.


Es gibt ja mittlerweile gesellschaftliche Prozesse wie Fridays for Future, die Spannungen erzeugen, die wir produktiv wenden müssen. In allererster Instanz brauchen wir eine Umkehr der Blickrichtung: Wir müssen lernen, gewisse Dinge neu zu denken. Die Publizistin Carolin Emcke beispielsweise regt an, dass wir die Zeit als eine existenzielle Währung betrachten sollten. Seit den 1960er-Jahren haben wir in der Haltung gelebt, immer mehr Raum zu brauchen. Dabei ist der Raum, der uns genügt, nicht weniger als der gesamte Globus: Wir müssen überall hin. Wir müssen überall gewesen sein. Wir müssen überall unsere Netzwerke spannen. Wir dürfen Nichts auslassen. Aber die Zeit läuft uns davon. Wir müssen zurück zur räumlichen Nähe und stärker als bisher in zeitlichen Kategorien denken: Kommen wir rechtzeitig – oder zu spät?

Milliardäre, die sich ins Weltall schießen lassen

Der Fehler wird aktuell auf eine perverse Art radikalisiert. Nämlich von Milliardären, die offensichtlich meinen, die nächste Herausforderung sei, sich aufgrund privater Investitionen ins Weltall schießen zu lassen. Eigentlich aber lautet ihre Botschaft: Ihr Irdischen, wir haben wenig mit Euch gemein. Wir sind auf der Suche nach extraterrestrischen Räumen und koppeln uns von Euch da unten Gebliebenen ab. Diese Haltung stellt die absolute Aufkündigung einer Gattungssolidarität dar. Ich zögere nicht, hier von einer neuen Apartheit zu sprechen, von einer Aufsplittung der Gattung. Wie folgendes Beispiel ebenfalls zeigt: In Brüssel befindet sich die größte Ansammlung von Hefen weltweit. Dieses Unternehmen entwickelt aktuell unter anderem auch Produkte, um zukünftig auch auf dem Mars Brotbacken zu können. Ein Alarmzeichen allererster Güte, wenn das die neuen Fantasien sind, die uns beflügeln. Denn das heißt ja nichts anderes als: Die Zukunft wird für die Menschheit ungemütlich und wir als kleine Avantgarde bereiten alles vor, um diesen kleinen Raum, unsere Welt, zu verlassen.

Wir sind der Wandel: Was ist die Lösung?

Wils: Wir müssen unsere Bedürfnisökologie kritisch prüfen, denn die ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Das heißt aber auch, dass es in Zukunft nicht ohne Verzicht und Verbote gehen wird. Die Zuständigkeit auszulagern, ohne uns selbst ins Visier zu nehmen, wird nicht funktionieren. Vielmehr müssen wir den Zyklus unterbrechen – und dafür brauchen wir eine klare Sprache sowie eine deutliche Perspektive. Denn nichts frustriert Menschen auf Dauer so sehr, wie sie im Unklaren zu lassen.

Wir sind der Wandel: Die Virologen haben ja aber offen und klar während der Pandemie kommuniziert. Und auch bezüglich des Klimawandels herrscht eine deutliche Sprache. Dennoch hat die Gesellschaft den Glauben an die Wissenschaft verloren.

Wils: Gegen diese klare Sprache mobilisieren viele Menschen ihre Illusionswelten. Daher braucht es zunächst einen Mentalitätswandel, der auf Grundlage eines Perspektivwechsels zustande kommt. Das ist bisher zu wenig geschehen. Deshalb müssen wir die Umkehr der Blickrichtung ganz anders erstreben und ermutigen. Dafür gibt es viele Ansatzpunkte: Wir merken plötzlich, wie wichtig eine Verlagerung der Grundversorgung in die Regionen wird. Das heißt, wir müssen die sensible, basale Infrastruktur sowie Grundgüter wie Wasser, Nahrung, Elektrizität, Verkehrswege, Energie- und Gesundheitsversorgung ein Stück weit aus den hyper-globalisierten Kontexten herauslösen und wieder in unsere Reichweite zurückholen. Wir wissen beispielsweise seit vielen Jahren, dass etwa 200 Grundmedikamente ständig mangelhaft vorhanden sind. Es muss immer wieder improvisiert werden. Dieser Mangel hängt damit zusammen, dass wir die Produktion pharmazeutischer Produkte ausgelagert haben, hauptsächlich nach China und Indien. Und auch der Krieg in der Ukraine führt dazu, dass es weltweit Probleme mit der Versorgung von Getreide gibt. Dementsprechend müssen wir vieles wieder in unsere Reichweite, und damit meine ich vor allem aber nicht nur Europa, zurückholen.

Diese Netzwerke können ganze Kontinente lahmlegen

Diese Beispiele zeigen, wie empfindlich die Globalisierung ist, die nur durch höchst anfällige digitalisierte Netzwerke funktioniert. Diese Netzwerke können ganze Kontinente lahmlegen, was wir völlig ignoriert haben und auch nicht wissen wollten. Jetzt zeigt sich, wie gefährlich diese Konstruktion ist. Daher wird es eine enorme ökonomische und soziale Transformation brauchen, die maßlose Globalisierung schrittweise und wohlüberlegt zurückzubilden. Natürlich werden globale Netzwerke nach wie vor bestehen, warum auch nicht. Wir müssen allerdings wieder ein Gleichgewicht zwischen Ferne und Nähe herstellen.

Wir sind der Wandel: Viele Unternehmen kritisieren diesen Weg, denn sie befürchten höhere Produktionskosten.

Wils: Die Frage ist, ob es tatsächlich zu einer Kostensteigerung kommen würde. Als einer der größten Textilhersteller Europas hat C&A zum Beispiel eine Produktionsstätte nach Mönchengladbach verlegt. Dort will das Unternehmen drei Prozent seiner Hosen nachhaltig produzieren.

Wir müssen von diesem Dogma Abstand nehmen, dass eine Produktionsverlagerung nach Europa gewinnreduzierend ist. Auch spüren viele Unternehmen aktuell, dass ihr bisheriges Produktionsprinzip stark anfällig ist und in Störungsfällen mit enormen Kosten einhergeht. Dementsprechend müssen wir uns auf den Weg einer solchen Transformation machen und eine Resilienz in den Regionen aufbauen. Nichts zu unternehmen wird langfristig für Wirtschaft und Gesellschaft nicht nur riskant, sondern auch erheblich teuer sein.

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Sabine Hockling

Die Chefredakteurin Sabine Hockling hat WIR SIND DER WANDEL ins Leben gerufen. Die Wirtschaftsjournalistin und SPIEGEL-Bestsellerautorin beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit den Veränderungen unserer Arbeitswelt. Als Autorin, Herausgeberin und Ghostwriterin veröffentlicht sie regelmäßig Sachbücher – seit 2023 in dem von ihr gegründeten DIE RATGEBER VERLAG.