Bei der Verwaltungsdigitalisierung hängt Deutschland im internationalen Vergleich weit zurück. Um daran etwas zu ändern, kaufte der Bund im Oktober 2020 ein Start-up. Ein bisher einzigartiger Weg – auch international.
Um die Aufgabe des DigitalServices und um die Motivation der Bundesregierung, dieses Start-up zu übernehmen, verstehen zu können, muss man sich die Entstehungsgeschichte näher anschauen: Die ersten Ideen dafür kommen von Andrej Safundzic, damals Informatik-Student im letzten Studienjahr in Harvard. Bei dem Kurs „Digital Government“ an der Harvard Kennedy School erzählen Regierungs-CIOs aus den USA, Großbritannien, Estland und Singapur, wie sie die digitale Transformation vorantreiben. Safundzic fragt sich, warum es das nicht für Deutschland gibt. An den technischen Talenten kann es nicht liegen, über die verfügt Deutschland.
Die aber haben mehr Interesse, bei Facebook, Microsoft & Co. zu arbeiten als für die Bundesregierung. Nicht so Safundzic, der generell mit seiner Arbeit und seinem Wissen Menschen helfen möchte. Entsprechend ist für ihn der Impact bei einer Regierung um ein Vielfaches höher als in der freien Wirtschaft. Und obwohl seiner Generation Impact sehr wichtig ist, interessieren sich viele IT-Experten nicht für eine Tätigkeit beim Staat. Grund ist seiner Meinung nach, dass die Arbeitsaufgaben dort zwar sehr spannend und vielfältig sind, der Kontext aber passt nicht. Viele wollen nicht 9-to-5 in einem “grauen” Büro (fest)sitzen. Auch sind sie im Zweifel nicht durch Zuständigkeitsbeschreibungen und Tätigkeitsprofile einzugruppieren.
Die Idee ist smart, sehr niedrigschwellig und risikoarm
Damit die Expert:innen sich dennoch für diese Aufgaben interessieren, verändert Safundzic kurzerhand die Arbeitsumgebung – zumindest “auf dem Papier”. Seine Idee: Talente aus den Bereichen Produktmanagement, Design und Engineering (Fellows) kommen für drei Monate mit Digitalisierungsmacher:innen aus Bundesbehörden zusammen. Er schickt Helge Braun, damals Chef des Kanzleramts, 2018 einfach per E-Mail seine Vorschläge. Der ist von seiner Idee derart begeistert, dass er sich mit ihm in Kontakt setzt: Die Geburtsstunde der Initiative Tech4Germany, für die Safundzic sich auf die Suche nach acht Fellows macht – unter anderem Sonja Anton, mit der er die Initiative später weiterentwickeln wird. Im Juni 2018 starten zwei Teams mit je vier Teilnehmer:innen (Studierende und Uni-Absolvent:innen), um mit dem ITZBund, dem IT-Betriebspartner des Bundes, in zehn Wochen an zwei Digitalisierungsprojekten zu arbeiten sowie Prototypen zu entwickeln. Die Ergebnisse überzeugen – der Proof of Concept für Tech4Germany. Denn die Idee ist smart, sehr niedrigschwellig und risikoarm. Im Jahr darauf nehmen bereits 27 Fellows in sechs Projekten teil.
Parallel dazu macht Christina Lang, die Jura studiert und zunächst in einer Unternehmensberatung gearbeitet hat, Anfang 2019 für acht Monate ein Sabbatical und arbeitet im Arbeitsstab Digitalisierung des Auswärtigen Amtes. Nach ein paar Jahren in einer Unternehmensberatung möchte sie den öffentlichen Sektor von innen heraus verstehen – und nicht aus der Perspektive der externen Beraterin. Sie möchte herausfinden, ob eine Karriere im öffentlichen Dienst zu ihr passt. Doch sie stößt an Grenzen: Einerseits sind die Stellenbeschreibungen – sogar für sie als Juristin – sehr juristisch und schwer verständlich. Andererseits gibt es kein Format für sie, da sie sich nicht auf eine Stelle bewerben, sondern nur für sechs bis neun Monate mitarbeiten möchte. Sie hat Glück, dass die Leiterin des Digitalisierungsstabs ihr Profil sieht und interessant findet. Die nämlich hofft, dass Lang über Erfahrungen und Methoden-Sets verfügt, die für die Arbeit ihrer Stabsstelle von Interesse sind.
Ein “Learning on the Job”-Konzept für Beschäftigte aus Verwaltungen
Sowohl Lang als auch die Mitarbeitenden der Stabsstelle merken schnell, dass es im öffentlichen Sektor viel mehr Leute wie Lang braucht. Ihre Arbeitsweise, ihre Methodenkompetenz und der Blick von jemanden, der eben kein Experte für Außenpolitik ist, ergänzen sich hervorragend mit dem Fachwissen des Teams. Lang und die Leiterin überlegen, wie man generell die Einstiegshürden für Querwechsler niedriger setzen könnte – die Geburtsstunde von Work4Germany (was damals allerdings noch nicht so hieß). Sie entwickeln ein Programm, mit dem man Berufstätige für sechs Monate aus ihrem eigentlichen Job herauslösen und ihnen Zugang zu Teams in Ministerien verschaffen kann. Aber eben nicht als externe Berater:innen, sondern als gleichberechtigter Teil dieser Teams. Ihnen geht es darum, intern über die gemeinsame Arbeit Kompetenzen aufzubauen. Sozusagen ein “Learning on the Job”-Konzept für Beschäftigte aus Verwaltungen. Auch sie stellen ihr Konzept dem Kanzleramt vor. Weil es mit Tech4Germany bereits ein ähnliches Programm bereits gibt, und Safundzic zwar das Projekt vorantreibt, jedoch seinen Master in Stanford machen wird, bringt man ihn mit Lang zusammen.
Neben Überschneidungen gibt es allerdings auch fundamentale Unterschiede zwischen den Programmen: Bei Tech4Germany geht es um die digitale Produktentwicklung (Design, Engineering, Produkt) – und damit um Kompetenzprofile, von denen es in Verwaltungen zu wenige gibt. Bei Work4Germany geht es um Future-Skills (moderne Management- und Digitalkompetenzen, digitales Verständnis) – etwas, was in der Verwaltung meist nicht vorhanden ist, und auch nicht explizit ausgebildet wird. Das heißt, Kompetenzen, die der Verwaltung fehlen, die man aber – neben dem, dass man Expert:innen für die Verwaltung begeistern will – bei den Beschäftigten zunehmend und schnell aufbauen muss.
Anlaufstelle für Expert:innen aus der freien Wirtschaft
Lang, Anton und Safundzic setzen sich zusammen und mit beiden Konzepten auseinander und überlegen, wie eine Umsetzung aussehen kann. Tech4Germany wird zu diesem Zeitpunkt von der Volkswagenstiftung finanziert. Bei Work4Germany gibt es einige rechtliche Fragestellungen zu klären, für die es auch ein rechtliches Konstrukt braucht. Sie entscheiden sich für ein Non-Profit-Start-up, wofür Lang und Anton ihre Jobs kündigen. Nach der Abschlussveranstaltung im August 2019 gründen die drei die 4Germany UG.
Deutschland hängt bei der Verwaltungsdigitalisierung im internationalen Vergleich weit zurück. Um daran etwas zu ändern, kaufte der Bund im Oktober 2020 das Start-up DigitalService. Ein bisher einzigartiger Weg – auch international. Diese spannende Reise durften wir begleiten.
Schnell stellen sie jedoch fest, dass es nicht nur für die beiden Programme eine Anlaufstelle braucht, sondern auch für Expert:innen aus der freien Wirtschaft, die bei Tech4Germany teilgenommen haben, danach aber wieder in ihre Jobs zurückgehen oder sich bei Start-ups bewerben, weil die ministerialen Strukturen mit ihrer Arbeitsumgebung und ihren Karrierepfaden langfristig nicht zu ihnen passen. Das passt zu einer Idee, die etwa zur gleichen Zeit der Digitalrat der Bundesregierung nach internationalen Vorbildern vorschlägt: Der Aufbau einer dauerhaften Softwareentwicklungseinheit, die in der öffentlichen Verwaltung angesiedelt ist, organisatorisch aber eigenständig bleibt. 2020 fangen die 4Germany-Gründer an, dazu mit dem Kanzleramt Gespräche zu führen: Wo könnte so ein Konstrukt angesiedelt werden? Wie wäre das zu finanzieren? Wie würde der Übernahmeprozess der Expert:innen aus dem Programm zu 4Germany aussehen?
Deutschland hängt im internationalen Vergleich bezüglich der Verwaltungsdigitalisierung weit zurück
So ungewöhnlich es klingt, im Grunde bleibt den Gründer:innen nur ein Exit an den Staat – auch wenn es diesen Weg so noch nicht gegeben hat, auch international nicht. Es ist einfacher, Geschäfte mit dem Staat zu tätigen und partnerschaftlich zusammenzuarbeiten, wenn beide Unternehmen im Staatsbesitz sind. Denn öffentliche Verwaltungen tun sich generell unheimlich schwer bei der Zusammenarbeit mit Externen und dem Wissenstransfer in die eigenen Strukturen. Damit der neu gegründete DigitalService am Ende aber nicht über einen schleichenden Prozess in diese Strukturen rutscht, kämpfen die Gründer:innen von Anfang an hart um ihren Organisationsspielraum. Auch wollen sie nicht an eine Beratungseinheit oder einen IT-Bereich in der öffentlichen Verwaltung angegliedert werden. Denn auch dort fehlen die Rahmenbedingungen, die der DigitalService bieten muss, um nutzerzentriert, agil und datengetrieben Software-Produkte entwickeln zu können. Und weil man beim DigitalService kompetitive Gehälter zahlen und Projekten Personal immer wieder neu zuordnen möchte, braucht die Bundes-GmbH mehr organisatorische Freiheiten, die nach dem öffentlichen Organisationsrecht nicht der Standard sind.
Große Pläne für ein Team, das im internationalen Vergleich noch ein recht schwaches Mandat hat. Der Bund committet sich zwar zum Aufbau dieser Einheit – aber eigentlich mangelte es auch davor nicht an politischen Initiativen, Strategien und großen IT-Digitalisierungsvorhaben. Und auch nicht an Projekten, die umgesetzt werden. Dennoch hängt Deutschland im internationalen Vergleich bezüglich der Verwaltungsdigitalisierung weit zurück.
Der DigitalService agiert in einer sehr komplexen Problemlandschaft
Deshalb orientieren sich die Gründer:innen an der Art und Weise, wie in anderen Ländern solche Einheiten aufgebaut werden – nämlich auf der Bundesebene. Wie viel der DigitalService hier allein erreichen wird, ob sie perspektivisch auch mit den Bundesländern zusammenarbeiten müssen oder ob sie für die, die in den Ländern die Themen vorantreiben, als Partner zur Verfügung stehen müssen, wird die Zeit zeigen. Denn noch agiert das Team in einer sehr komplexen Problemlandschaft. Dabei ist das Personal in den Verwaltungen keineswegs inkompetent. Vielmehr schließt man über die Fellowship-Programme und die agile Softwareentwicklung, die es so nicht in der Verwaltung gibt, eine Lücke. Das heißt, alles, was der DigitalService als Organisation unternimmt, ist, sich problemorientiert zu entwickeln und vorzuarbeiten – um Jahr für Jahr einen größeren Beitrag leisten zu können.
Im Oktober 2020 ist es so weit: Aus dem Non-Profit-Start-up 4Germany wird die Bundes-GmbH DigitalService. Die Fellowship-Programme werden verstetigt und der Aufbau der Softwareentwicklungseinheit beginnt: Seither hat der DigitalService mit dem Bund vier verschiedene Softwareentwicklungsprojekte realisiert – agil und nutzerzentriert. Sie haben viel darüber gelernt, warum die Dinge so viel schwieriger sind, als sie vielleicht von außen oder auf einer politischen Entscheiderebene den Anschein haben.
Auf diese Erfahrungen baut die Bundes-GmbH auf. Die nächsten zwei Jahre werden sie messen, wie schnell sie das erreichen, was sie sich vorgenommen haben. Und wie erfolgreich sie das tun – um in zwei, drei Jahren zu prüfen, wo die weitere Reise als Organisation hingegen muss. Wie groß der DigitalService dabei wird, hängt weniger davon ab, ob es genug Aufgaben zum Anpacken gibt, sondern vielmehr, ob man für die ausgewählten Projekte die richtigen Personen findet. Bislang jedenfalls gehen die Wachstumspläne auf: Derzeit arbeiten 85 Expert:innen aus den verschiedensten Bereichen für den DigitalService. Und es kommen monatlich weitere neue Leute hinzu – bis Ende des Jahres wollen sie auf 120 Mitarbeitende anwachsen.