Der radikale Wandel ist keine normale Veränderung des Geschäftsumfelds, sondern bedroht fundamental die Existenz von Unternehmen. Wie Unternehmen erfolgreich sind, während andere untergehen, erzählt Niklaus Leemann im Interview.
Veränderungsprozesse gehören zum Alltag von Unternehmen. Dementsprechend sind Führungskräfte gewohnt, sich mit inkrementellen Veränderungen auseinanderzusetzen. In einer Welt der Krisen und Umbrüche aber müssen Organisationen riesige Veränderungen meistern. Solch ein radikaler Wandel ist keine normale Veränderung des Geschäftsumfelds. Vielmehr bedroht er die bestehende Geschäftsgrundlage eines Unternehmens – und damit fundamental die Existenz. Viele Unternehmen überleben eine solche Periode nicht. Sie sterben aus, neue Player übernehmen das neue Geschäft in den entstehenden Wachstumsmärkten.
Prominentes Beispiel ist Kodak: Bis zur Jahrtausendwende noch Marktführer in dem hoch profitablen Geschäft mit Fotofilmen, verschläft das Unternehmen den Wandel. Kodak konzentriert sich zu lange auf den Verkauf von Filmen und Fotopapier und investiert zu wenig in die Entwicklung von digitalen Kameras. Als die digitale die analoge Fotografie ersetzt, kann Kodak nicht mehr mithalten und verliert Marktanteile. Am Ende ist eines der wertvollsten Unternehmen der Welt Geschichte.
Warum einigen Unternehmen die Adaption an ein sich radikal wandelndes Geschäftsumfeld gelingt und anderen nicht, erzählt Niklaus Leemann im Interview. Der Strategieberater ist für das Top-Management internationaler Unternehmen, der Fokus seiner Arbeit liegt dabei in der langfristigen strategischen Entwicklung dieser Unternehmen. Leemann hat an der HHL Leipzig Graduate School of Management zum Doktor der Wirtschaftswissenschaften promoviert sowie an der Universität St. Gallen in der Schweiz und Nanyang Business School in Singapur studiert. In seinem aktuellen Buch Adaption! Wie sich etablierte Unternehmen an radikalen Wandel anpassen zeigt er, wie Unternehmen erfolgreich sein können, wenn andere untergehen.
Führung ist in Zeiten des Wandels eine Herausforderung. Wie gute Führung gelingen kann und welche Herausforderungen Führungskräfte bewältigen müssen, darüber spricht Sabine Hockling in der Serie CHEFSACHE.
Wir sind der Wandel: Haben Unternehmen mit ihrer Profitmaximierung – ohne Rücksicht auf Beschäftigte, Umwelt, Klima, Steuergerechtigkeit – ihre Misere selbst verursacht?
Niklaus Leemann: Ja! Meine Erfahrung ist, dass Unternehmen entweder nicht erkannt haben, mit welchem Problem sie konkret zu kämpfen haben. Oder sie haben das Problem erkannt, jedoch nicht die richtigen Schlüsse daraus gezogen. Den radikalen Wandel meistern Unternehmen jedoch nur erfolgreich, wenn sie wissen, welches Problem ihr Unternehmen tatsächlich beschäftigt. Das heißt, sie müssen nicht das Symptom bekämpfen, sondern die wirkliche Ursache herausfinden. Was trivial klingt, ist für viele sehr herausfordernd.
„Die erste Hürde ist das Erkennen des wirklichen Problems“
Wir sind der Wandel: Wie stelle ich das als Führungskraft an?
Leemann: Wer sein Unternehmen erfolgreich in die Zukunft führen möchte, muss nicht nur das „alte“ Geschäft bis ins letzte Detail kennen und verstehen. Er muss sich auch kognitiv in „neue“ Geschäftsfelder hineindenken können. Wer das nicht kann, schafft die Adaption nicht. Im Grunde müssen Unternehmen ihr Geschäft in zwei Bereiche aufteilen. Es gibt den „alten“ Teil mit seinem rückläufigen Geschäft, was aber nicht morgen wegbricht, sondern noch einige Jahre gut läuft. Und es gibt einen „neuen“ Teil. Dieser ist zwar im Verhältnis zum „alten“ noch klein, hat aber Zukunftspotenzial.
Wir sind der Wandel: Welche Hürden sind dabei besonders herausfordernd?
Leemann: Die erste Hürde ist das Erkennen des wirklichen Problems. Oft ist eben nicht auf Anhieb deutlich, wohin sich der Markt entwickelt, wie der Fall Kodak zeigt. Im Nachhinein ist die Entwicklung plausibel. Damals aber war dem Marktführer nicht klar, dass die digitale die analoge Fotografie ersetzen wird. Und noch immer ist es eine große Herausforderung, die Zukunft richtig einzuschätzen. Dazu muss man komplett „out of the box“ denken sowie mutig genug zu sein, das „alte“ Geschäft auch loszulassen. Wer kann heute zum Beispiel mit Gewissheit sagen, dass das E-Auto den Verbrenner ablösen wird?
Wer erst handelt, wenn die „alte“ Welt vorüber und die „neue“ bereits da ist, handelt zu spät. Dann sind andere Unternehmen im Markt die Player und man ist raus. Das heißt, Führungskräfte müssen Märkte und Technologien kontinuierlich beobachten, die richtigen Schlüsse daraus ziehen, Implikationen daraus ableiten, Dinge ausprobieren, ins neue Geschäft reingehen und sich notfalls wieder zurückziehen. Dabei machen Unternehmen zwangsläufig viele Fehlinvestitionen.
Daher ist die zweite Hürde die konsequente Umsetzung und das Investieren in neue Geschäftsmodelle, Märkte und Technologien. Ganz selten gelingt es Unternehmen, das selbst aufzubauen. Daher kaufen Sie meist ein oder mehrere kleine Unternehmen oder Start-ups, die die ersten Schritte bereits erfolgreich gegangen sind.
Und die dritte Hürde ist das parallele Führen von zwei Unternehmensbereichen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Dabei darf das alte Geschäft auf keinen Fall vernachlässigt und als nicht mehr wertvoll eingestuft werden. Denn es muss noch möglichst lange bestehen, damit es die finanziellen Mittel erwirtschaftet, um das Unternehmen in die Zukunft zu tragen. Parallel dazu muss das neue Geschäft mit großer Energie und ausreichend finanziellen Mitteln entwickelt werden.
Um beiden Geschäftsteilen gerecht werden zu können, sollten Unternehmen ihre Belegschaft in zwei Teams aufteilen. Die „alten Hasen“ betreiben das „alte“ Geschäft erfolgreich weiter. Im „neuen“ Geschäftszweig sind die Beschäftigten aktiv, die über das nötige Know-how für zukünftige Märkte und Technologien verfügen. Beide Geschäftsbereiche dabei unter einem Unternehmensdach zu vereinen, ist sehr herausfordernd: Im Bestandsgeschäft herrscht große Planungssicherheit. Aufgrund ihrer jahrzehntelangen Erfahrungen und ihres umfangreichen Know-hows wissen Führungskräfte und Belegschaft, wie das Geschäft funktioniert. Meist geht es nur noch darum, Produkte oder Dienstleistungen besser zu machen. Im „neuen“ Geschäft hingegen muss viel ausprobiert werden, es muss eine gewisse Scheitertoleranz und Motivation bezüglich der Veränderung existieren. Und daran scheitern viele Unternehmen.
„Deutsche sind sehr gut darin, etwas Bestehendes weiterzuentwickeln und zu perfektionieren“
Wir sind der Wandel: Warum kommen sehr viele innovative Unternehmen aus den USA und nicht aus Deutschland?
Leemann: Ein Grund ist der kulturelle Unterschied: Deutsche sind sehr gut darin, etwas Bestehendes weiterzuentwickeln und zu perfektionieren. Davon loszulassen und sich etwas komplett Neuem zu stellen, fällt ihnen schwer. Deutlich wird das aktuell in der Automobilindustrie. Den USA hingegen fällt es leichter, sich vom Alten zu lösen und das Neue anzunehmen.
Damit verbunden verfügt die USA über eine Kultur des Scheiterns. Während hier das Scheitern als Lernkurve verstanden wird, ist es in Deutschland oft mit Stigma behaftet. Wer befürchtet, dass ein Scheitern seiner Karriere und seinem Ansehen schadet, der vermeidet Risiken und setzt keine neuen Ansätze und Ideen um. So aber entwickeln sich Unternehmen nicht weiter, sondern stagnieren. Oder, wie im Fall von Kodak, sie verschwinden vom Markt.