KI-Systeme haben einen enormen Einfluss auf unsere Welt. Weil sie mit vorurteilsbehafteten Denkmustern „gefüttert“ werden, spiegeln sie geschlechtsspezifische Vorurteile wider, die Frauen diskriminieren.
Ein Gastbeitrag von Sophie Rohé
Die Digitalisierung wird in den kommenden Jahren alle Bereiche unseres Lebens grundsätzlich verändern: Wie wir kommunizieren, uns informieren, konsumieren und vor allem, wie wir arbeiten. Neue Jobs entstehen, Berufsbilder ändern sich und die digitale Kommunikation setzt einen neuen Rahmen für Zusammenarbeit. Schon jetzt haftet die Digitalisierung via Smartphone 24 Stunden an uns. Wir bewegen uns zwischen der Angst, überwacht zu werden. Von Maschinen geleitet, alles Menschliche an virtuelle Seinszustände zu verlieren. Und der Hoffnung, dass wir durch die Digitalisierung mehr Zeit für die wichtigen Dinge unseres Lebens gewinnen, weil der Roboter lästige Arbeiten wie das Saugen oder Rasenmähen übernimmt.
Doch was hat die Digitalisierung mit Gleichstellung und equal pay zu tun? Kann sie Berufe, die hauptsächlich von Frauen ausgeübt werden, aufwerten und für eine faire Bezahlung sorgen? Kann sie mehr Frauen in Führungspositionen bringen, unbezahlte Care-Arbeit zwischen Männern und Frauen gerecht aufteilen, die Entgelttransparenz in Unternehmen vorwärtsbringen sowie tradierte Rollenstereotype verhindern? Die Digitalisierung selbst kann gar nichts, denn sie entwickelt sich nicht von selbst. Wir gestalten sie. Das ist unsere Chance: Wir können bei der Gestaltung einen Schwerpunkt auf Geschlechtergerechtigkeit und gleiche Bezahlung von gleicher und gleichwertiger Arbeit legen.
Digitalisierung als Chance für Gleichstellung am Arbeitsmarkt
Einen Vorteil haben wir in der Corona-Pandemie erlebt: Das Home-Office spart den Arbeitsweg und kann die Vereinbarkeit von Beruf und Familie unterstützen – was ein Vorteil für Mütter und Väter ist! Technische und digitale Lösungen für schwere körperliche Arbeiten haben das Potenzial, die Geschlechtertrennung am Arbeitsmarkt aufzuheben. Wer den Computer steuert, der schwere Teile im Autowerk zusammensetzt, ist dem Computer egal.
Frauen bringen alle Fähigkeiten mit, die digitale Zukunft der Arbeit mitzugestalten. Und die Computergeschichte ist weiblich: Ada Lovelace, Grace Hopper oder Margaret Hamilton waren Pionierinnen der Programmierung. Frauen sind wichtig als Programmiererinnen, Projektmanagerinnen, Unternehmerinnen, als Wissenschaftlerinnen, als Datensatz, als Quereinsteigerinnen und Nutzerinnen.
Die höheren Anforderungen müssen sich in höherem Entgelt widerspiegeln
Derzeit sind 80 Prozent aller Software-Entwickelnden männlich. 90 Prozent der Start-ups im Bereich Digitalisierung werden von Männern gegründet. Frauen entgehen attraktive Jobs im zukunftsträchtigen IT-Sektor und auch auf Frauen als Nutzerinnen wirkt sich dieses Missverhältnis negativ aus. Selbst wenn Frauen in der Digital-Branche arbeiten, sind sie oft mit stereotypen Vorstellungen in einem männlich geprägten Arbeitsumfeld konfrontiert. Mehr als die Hälfte kündigen ihren Job, kaum eine schafft es ins Topmanagement – was auch eine Frage der Arbeits- und Unternehmenskultur in der Digitalbranche ist.
Einmal im Jahr findet in mehr als 20 europäischen Ländern der Equal Pay Day statt, der symbolisch den Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern markiert. Das Motto der diesjährigen Kampagne: Equal pay 4.0 – gerechte Bezahlung in der digitalen Arbeitswelt. Initiiert wird er seit 2008 vom Business and Professional Women (BPW) Germany. In diesem Jahr fällt der Equal Pay Day auf den heutigen Tag, der Gender Pay Gap beträgt 18 Prozent. Sophie Rohé ist Pressesprecherin des BPW.
Bisher vermeintlich einfache Tätigkeiten wie Kassiertätigkeiten oder Bürotätigkeiten, die hauptsächlich von Frauen ausgeübt werden, erfordern im Zuge der Digitalisierung zusätzliche Qualifikationen. Deshalb müssen Weiterbildungsmaßnahmen sowie Zugänge zu digitaler Ausrüstung in Unternehmen Männern und Frauen zu gleichen Teilen zur Verfügung stehen. Auch müssen sich die höheren Anforderungen in höherem Entgelt widerspiegeln.
Künstliche Intelligenz gilt als Technologie der Zukunft
60 Prozent der Medizinstudierenden und 46 Prozent der Ärzteschaft sind Frauen. Wer den neutralen englischen Begriff „doctor“ in Google Translate eingibt, bekommt auf Deutsch keine Ärztin, sondern einen männlichen „Arzt“ als Übersetzung. Gleiches gilt bei Journalisten, Psychologen und Geschäftsführern. Umgekehrt erscheint bei „nurse“ kein Krankenpfleger, sondern die klassische Krankenschwester. Weiblich geht also doch – wenn es dem Klischee entspricht.
Künstliche Intelligenz gilt als Technologie der Zukunft. Aber gerade mal 16 Prozent der KI-Fachkräfte sind Frauen. Wenn wir jetzt nicht die richtigen Weichen stellen, bleiben Frauen bei der technischen Entwicklung außen vor, je weiter sie mit Hochgeschwindigkeit voranschreitet. Frauen sind im Bereich Künstliche Intelligenz, wie überhaupt in allen MINT-Berufen, unterrepräsentiert. Zu den Top zehn der wachsenden Berufsfelder in den entwickelten Volkswirtschaften gehören Datenanalyse, KI und Machine-Learning sowie Big Data – bislang männerdominierte Berufe. Technologien, die von männlich dominierten Teams und Unternehmen entwickelt wurden, können geschlechtsspezifische Vorurteile widerspiegeln. Und auch eine unvollständige Datengrundlage kann zu einem Bias führen. Google Translate ist hier nur eines von vielen Beispielen.
Unbewusste Vorurteile der realen Welt setzen sich in der binären Welt fort
Bis vor Kurzem hat der Apple-Sprachassistent Siri auf eine sexistische Beschimpfung mit dem Satz „Wenn ich könnte, würde ich erröten“ reagiert. Cortana, Alexa oder Google Assistant reagierten ähnlich freundlich auf frauenfeindliche Äußerungen – auch wenn die Programmierteams inzwischen nachjustiert haben. Generell verstehen Sprachassistenten wie Amazons Alexa tiefe, also mehrheitlich männliche Stimmen besser als weniger tiefe Stimmen, also mehrheitlich weibliche Stimmen.
Auf Karriereportalen bekommen Frauen seltener als Männer Stellenanzeigen für besser dotierte Jobs zu sehen. Der Grund: Weiblichkeit wird von den Algorithmen eher mit Heim- als mit Erwerbsarbeit assoziiert. Ein weiteres Beispiel liefert die Google-Bildersuche. Zum Stichwort „Mensch“ tauchen unter den Top-Suchergebnissen ausschließlich Männer und geschlechtsneutrale Strichmännchen auf. Dabei bleibt das Problem immer das gleiche. Die vermeintliche Objektivität der Maschinen speist sich aus der Subjektivität der Menschen. Seit beinahe 30 Jahren spült die Menschheit ihr Wissen ins World Wide Web. Wenn die KI-Software mit diesen Datensammlungen trainiert wird, kann sie nur die dort vorhandenen Vorurteile und Klischees lernen.
Bildung nimmt eine Schlüsselposition ein
Wir brauchen vorurteilsfreie und geschlechterneutrale pädagogische Konzepte in Schule, Hochschule und bei der beruflichen Beratung. Es genügt nicht, eine AG Programmierung anzubieten, an der dann nur Jungs teilnehmen. Es ist wichtig zu fragen: Warum nehmen Mädchen nicht daran teil? Liegt es an der Gestaltung des Raums, liegt es an der Ankündigung, dem Thema, oder an tradierten Rollenstereotypen, die in der Klasse, an der Schule, durch das Lehrpersonal bewusst oder unbewusst vermittelt werden? Ein Pflichtfach Informatik, das Jungen und Mädchen für IT begeistert und das Geheimnis um Künstliche Intelligenz entmystifiziert, wäre hier ein guter Anfang.