Digitaler Stress: Strategien zur Prävention

Gesicht überhäuft mit Post-its

Digitaler Stress ist allgegenwärtig. Wissenschaftlich belegt ist, dass er uns krank machen sowie erfolgskritisch für Unternehmen sein kann. Was präventiv hilft, weiß Dr. David Bausch.

Ein Gastbeitrag von Dr. David Bausch

Unsere Arbeitswelt wird immer digitaler – was enorme Vorteile hat, allerdings auch neue Belastungsfaktoren erzeugt. Das haben wir alle während der Corona-Pandemie erlebt; mindestens aber die elf Millionen Menschen, die während dieser Zeit regelmäßig aus dem Homeoffice gearbeitet haben. Denn digitaler Stress ist die Schattenseite dieser neuen digitalen Arbeitswelt. Doch was versteckt sich dahinter?

Im Fokus: Neues Jahr, starkes ichViele verbinden das zunächst mit einer dauerhaften Erreichbarkeit, dem „always on“ sein. Doch das ist nur ein kleiner Teil davon. Erste Untersuchungen zu dem Thema fanden bereits in den 1980er-Jahren statt. Unter dem Begriff „Technostress“ wurden die Auswirkungen von Technologie auf das menschliche Wohlbefinden untersucht. So wurde unter anderem untersucht, wie technologische Innovationen wie zum Beispiel die Implementierung elektronischer Verwaltungssysteme in Bibliotheken dortige Beschäftigte entlasten. Was grundsätzlich gut gedacht war, führte jedoch schnell zu großer Belastung und Überforderung der betroffenen Belegschaft. Ursache war, dass die Kompetenzen der Bibliothekarinnen und Bibliothekare schlichtweg andere waren als die technologisch gestützten Hilfssysteme vorausgesetzt hatten. Und weil die Betroffenen nicht auf die neuen Anforderungen in ihrem Arbeitsumfeld vorbereitet waren, hatte sie die technologische Entwicklung förmlich überrannt.

Viele haben das Gefühl, nicht mehr Schritt halten zu können

Es gibt erstaunliche Parallelen zur heutigen Arbeitswelt. Denn auch heute ist die Geschwindigkeit des technologischen und digitalen Fortschrittes für viele Menschen eine große Belastung. Seit der pandemischen Zeit hat vor allem die technologische und digitale Veränderungsgeschwindigkeit enorm an Fahrt aufgenommen. Die Folge: Viele Menschen haben das Gefühl, hier nicht mehr angemessen Schritt halten zu können.

Und obwohl die Forschung die Ursachen über Jahrzehnte untersuchte, dauerte es noch fast 20 Jahre, bis die Forschung nach den ersten Studien im Umfeld der Bibliotheken einen großen Durchbruch erzielte. In der bis heute bemerkenswertesten und meistzitierten Studie des gesamten Forschungsfeldes aus dem Jahr 2007 schafften es die Autoren, fünf zentrale Stressoren zu identifizieren und zu messen, die für digitalen Stress und die wahrgenommene Belastung entscheidend sind. Ich bin mir sicher, Sie werden alle bei sich und/oder ihren Kolleginnen und Kollegen wiedererkennen:

  1. Die Ungewissheit im Umgang mit neuen digitalen Systemen und Anwendungen.
  2. Die Komplexität, Technologien zu durchdringen, was oftmals mit der zuvor genannten Ungewissheit einhergeht.
  3. Die stetige Erreichbarkeit, die viele insbesondere seit der Pandemie belastet; und die ortsunabhängigen Arbeitsmöglichkeiten, die gewiss viele Vorteile bieten. Doch wer von überall (insbesondere von Zuhause) arbeiten kann, der hat diesen Ort nun nicht mehr als bedingungslosen Rückzugsort, der weitestgehend frei von Arbeitsinhalten ist. Haben Sie schon einmal abends vom Sofa ihre beruflichen Mails gecheckt? Heute ist das für viele Menschen Teil des Alltags. Und wenn das berufliche Anliegen wichtig erscheint, dann wird der Laptop noch einmal aufgeklappt und versucht, das Problem zu lösen. In früheren Jahren, in denen die Möglichkeit des Homeoffice nicht in dieser Weise gegeben war, musste der Betroffene zumindest bis zum nächsten Morgen warten, um den Sachverhalt lösen zu können. Dieser vorherige Schutzmechanismus besteht für die eingangs genannten elf Millionen Menschen heute nicht mehr.
  4. Auch die sogenannte „Überladung“ ist für viele Menschen eine große Herausforderung. Am Arbeitsplatz werden immer mehr technologische und kommunikative Systeme sowie digitale Anwendungen implementiert. Das erschwert die kompetente Handhabung und stellt damit eine Verknüpfung zu den Stressoren Ungewissheit und Komplexität her.
  5. Doch auch der letzte Stressor, der in der eingangs genannten Studie von 2007 belegt worden ist, gewinnt seit dem Jahr 2023 enorm an Bedeutung: die wahrgenommene Jobunsicherheit. Seit dem Beginn der KI-Revolution ist das Bewusstsein deutlich stärker vorhanden, zu was intelligente Systeme imstande sind zu leisten. Und damit auch die Befürchtung, ob dies einen Einfluss auf die eigene Tätigkeit haben kann.

Es sind bereits die kleinen Dinge, die verunsichern können

Doch neben diesen genannten Stressoren identifiziert die Forschung mittlerweile weitere relevante Stressoren. Die validesten sind aktuell die Unzuverlässigkeit von Technologien und die wahrgenommene Überwachung. Ersteres adressiert, dass Technologien nie zu 100 Prozent fehlerfrei sein werden und das mit Systemabstürzen daher immer zu rechnen sein muss. Das kann für viele Menschen insbesondere unter Zeitdruck oder in Momenten großer Bedeutsamkeit belastend sein. Für viele Menschen ist aber auch das Thema der wahrgenommenen Überwachung (insbesondere im Homeoffice) relevant. Die technologischen Möglichkeiten einer Überwachung sind enorm – wenngleich zum Glück in Deutschland auch stark reguliert. Doch es sind bereits die kleinen Dinge, die verunsichern können. So höre ich immer wieder, dass es Beschäftigte nervös macht, wenn ihr Status in MS-Teams gelb wird, was für eine 5-minütige Inaktivität der Maus spricht. Und auch wenn es dafür viele gute Gründe geben kann, die Sorge, dass die Führungskraft genau im Blick haben kann, welche Mitarbeitenden besonders lange und häufig gelb sind, ist für einige belastend.


David Bausch

Dr. David Bausch ist systemisch ausgebildeter Organisationsberater und einer der führenden Experten für digitalen Stress. Er ist Keynote Speaker und Trainer, ferner lehrt er an der Hochschule Mainz. Mit seiner Beratung Digi2place misst er digitalen Stress und berät Unternehmen zu einem präventiven Umgang. Der Gastbeitrag stammt aus dem Buch Digitaler Stress: Schattenseite der neuen Arbeitswelt.


Die Forschung diskutiert noch weitere Stressoren, auch existieren noch weitere Belastungsfaktoren, aber für die genannten gibt es bisher die fundiertesten Forschungsbelege. Auch bin ich überzeugt, dass mit der Zeit noch einige weitere hinzukommen werden, denn die Arbeitswelt wird nicht weniger digital werden. Wir stehen erst am Anfang. Es stellt sich deshalb die Frage, was Menschen und Unternehmen dagegen tun können.

Ein gutes Bewusstsein für Nicht-Erreichbarkeit entwickeln

Für Beschäftigte und Unternehmen ist es zunächst relevant, die Stressoren nicht nur zu kennen, sondern zu analysieren, welche besonders relevant sind. Beides lässt sich mit validen statistischen Messverfahren gut abbilden. Wenn diese Erkenntnisse gewonnen sind, müssen maßgeschneiderte Lösungen geschaffen werden. Sind die Stressoren Ungewissheit und Komplexität besonders relevant, ist die Mitarbeiterbefähigung ein wirksamer Hebel. Dabei ist die Vorbereitung auf neue Systeme und Anwendungen sowie der generelle Aufbau digitaler Kompetenzen hier entscheidend. Wichtig ist dabei aber auch, dass Führungskräfte psychologische Sicherheit schaffen, damit Mitarbeitende sich trauen, offen zu äußern, wenn sie sich nicht angemessen in der Lage sehen, ein System optimal zu nutzen.

Doch wenn vor allem die Entgrenzung von Berufs- und Privatleben eine große Belastung darstellt, braucht es klare Abgrenzungsrituale und eine digitale Zusammenarbeitsvereinbarung. Hier ist die Führungskraft in der Pflicht, einen Rahmen zu setzen, über welche Kanäle und zu welchen Zeiten Mitarbeitende erreichbar sein sollten. Dabei ist es wichtig, ein gutes Bewusstsein für Nicht-Erreichbarkeit zu entwickeln. In 95 Prozent der Jobs sollte temporäre Nicht-Erreichbarkeit definitiv umsetzbar sein, denn die wenigsten „operieren am offenen Herzen“. Ich sage immer: Zeigen Sie mir drei Jobs in Ihrem Unternehmen, bei denen die Beantwortung einer E-Mail um 19.00 Uhr nicht auch am nächsten Tag um 8.00 Uhr erfolgen kann? Die Tatsache, dass die meisten hier sehr lange überlegen müssen, spricht für sich.

In meinem Buch „Digitaler Stress: Schattenseite der neuen Arbeitswelt, zeige ich im Detail, wie digitaler Stress entsteht, liefere umfangreiche Beispiele für alle genannten Stressoren und erläutere, was Beschäftigte, Führungskräfte und Organisationsentwickler in Betracht ziehen sollten, damit digitalem Stress präventiv vorgebeugt werden kann. Denn in einer immer digitaler werdenden Arbeitswelt wird ein gewisses Maß an digitalem Stress immer vorhanden sein und dementsprechend eine Belastung darstellen. Prävention sollte daher im Fokus stehen. Dafür aber braucht es individuelle Lösungen und ein Umdenken in Organisationen. Übernehmen KI-Systeme und intelligente Algorithmen zukünftig viele unserer Tätigkeiten, wird der Ressource Mensch eine neue Bedeutung und Wichtigkeit zu Teil.

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