Vielen Unternehmen brechen derzeit ihre etablierten Schichtpläne auseinander. Die 4-Tage-Woche ist jedoch nicht die Lösung. Es gibt deutlich bessere Konzepte, sagt der Arbeitszeitexperte Guido Zander.
Viele Beschäftigte wünschen sich eine 4-Tage-Arbeitswoche – am besten mit reduzierten Arbeitsstunden bei vollem Lohnausgleich. Und dass, obwohl Deutschland in Europa mit 34,2 Stunden eine der kürzesten durchschnittlichen Wochenarbeitszeiten hat. Unterstützung erhalten Beschäftigte von den Gewerkschaften, die sich ebenfalls für eine Verkürzung der Arbeitszeit einsetzen. Die IG Metall, die größte Gewerkschaft Deutschlands, ist davon überzeugt, dass das Arbeitsplätze erhält sowie Entlassungen vermeidet.
Der Wirtschaftsinformatiker Guido Zander beschäftigt sich seit 1995 mit dem Thema Arbeitszeit. Während er damals noch bei seinen Kunden klassische Zeiterfassungssysteme einführte, berät er heute Unternehmen zu den Themen Arbeitszeit und Personaleinsatzplanung. Dabei prüft er, welche Arbeitszeitsysteme und -strukturen zum Unternehmen passen, und unterstützt bei Bedarf die Suche nach der richtigen Software. Denn er erkannte bereits vor 20 Jahren, dass eine Annäherung an das Thema Arbeitszeit nicht über eine Software funktioniert, sondern über Prozesse und Modelle.
Die Berichterstattung zur 4-Tage-Woche ist sehr euphorisch und undifferenziert
Aktuell ist Zander viel in produzierenden Unternehmen tätig, da diesen ihre etablierten Schichtpläne im wahrsten Sinne des Wortes um die Ohren fliegen – sowohl im Hinblick auf Flexibilität, als auch auf die dringend benötigte Arbeitgeberattraktivität. Und weil die Berichterstattung zur 4-Tage-Woche sehr euphorisch und undifferenziert ist, und die verschiedenen Studien nicht korrekt zitiert werden, hat er das Buch Wundermittel 4-Tage-Woche? geschrieben.
Die Pauschalforderung, dass die 4-Tage-Woche im Gesetz oder in Tarifverträgen verankert werden soll, hält er dabei für gefährlich. Denn nicht wenige seiner Kundinnen und Kunden stehen aktuell rezessionsbedingt wirtschaftlich nicht so gut dar, als dass sie eine 4-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich umsetzen könnten. Würde ein Gesetz oder ein Tarifvertrag sie dazu zwingen, würden das viele Unternehmen nicht überleben – ohne ihre Produktion verlagern zu müssen. Welche Arbeitszeitsysteme stattdessen sinnvoll sind, beantwortet er im Interview.
Wir sind der Wandel: Beim Thema 4-Tage-Woche stehen sich zwei Fraktionen gegenüber: Die einen sagen, sie ist der Untergang des Abendlandes. Die anderen sagen, sie ist die Lösung für alles.
Guido Zander: Beide Extreme sind Unsinn. Wer glaubt, dass wir aufgrund des Fachkräftemangels mehr als eine 40-Stunden-Woche anstreben müssen, hat wirklich nichts verstanden. Solche Schichtsysteme würden zu steigenden Krankenzeiten und am Ende unter Umständen sogar zu weniger Nettoarbeitszeit führen als vor der Erhöhung zur Verfügung stand. Auch wird nicht jedes Unternehmen eine Arbeitszeitverkürzung durch eine steigende Produktivität kompensieren können. Wir befinden uns aktuell in einer Rezession, vielen Unternehmen geht es wirtschaftlich nicht gut. Eine 4-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich zu realisieren, halte ich daher zumindest im Industrieumfeld für schwierig.
“Viel effektiver ist die Flexibilisierung der Arbeitszeit.”
Wir sind der Wandel: Was ist stattdessen sinnvoll?
Zander: Viel effektiver ist meiner Meinung nach die Flexibilisierung der Arbeitszeit: Wir sind aktuell bei einem Kunden, bei dem wir eine 4,75-Tage-Woche umsetzen – reduziert wird von 40 auf 38 Stunden. Das heißt, die Beschäftigten erhalten 11,5 (!) freie Tage jährlich mehr. Das Unternehmen muss die freien Tage jedoch nicht starr in einem fixen Turnus gewähren, sondern kann sie nach Auftragslage genehmigen, wodurch Wirtschaftlichkeit mit der Flexibilität und Entlastung für die Mitarbeitenden kombiniert wird. Eine Win-Win-Situation für beide Seiten.
Wir sind der Wandel: Also ist die 4-Tage-Woche kein gutes Arbeitszeitmodell?
Zander: Sie ist weder per se gut noch per se schlecht. Das heißt, je nach Voraussetzungen passt sie besser oder schlechter. Im Übrigen sprechen wir bei der SSZ Beratung nicht von Arbeitszeitmodellen, sondern von Arbeitszeitsystemen, die aus unterschiedlichen Modellen bestehen, die wiederum die unterschiedlichsten Flexibilisierungsmöglichkeiten in den unterschiedlichen Lebensphasen der Beschäftigten so kombinieren, dass sie den Flexibilitätsbedarf des Unternehmens abdecken.
Die Praxis zeigt jedoch, dass die „One size fits all“-Modelle nach wie vor Standard sind. In der Regel sind die aber zu wenig flexibel, da sie sich immer an den unflexibelsten Personen orientieren. Und wenn es eng wird, dann sucht man nach Freiwilligen, die dann noch kurzfristig einspringen. Das aber funktioniert zunehmend weniger, weil die Zahl der Beschäftigten abnimmt, die zum Nulltarif flexibel sein wollen.
Führung ist in Zeiten des Wandels eine Herausforderung. Wie gute Führung gelingen kann und welche Herausforderungen Führungskräfte bewältigen müssen, darüber spricht Sabine Hockling in der Serie CHEFSACHE.
Deshalb definieren wir mehrere Modelle mit unterschiedlichen Flexibilitätsgraden, zwischen denen die Beschäftigten wählen können. In den einzelnen Modellen ist dabei genau definiert, welche Art von Flexibilität ein Beschäftigter wann, wie oft und mit welcher Ankündigungsfrist erfüllen muss. Gleichzeitig ist aber auch transparent, was man für die jeweilige Flexibilität als Anreiz erhält. Beschäftigte, die flexibel sind, kriegen beispielsweise eine Wochenarbeitszeitverkürzung. Der Vorteil für Unternehmen: Sie vermeiden Leerstunden. Der Vorteil für Beschäftigte: Mal haben sie so eine 4,5 Tage-Woche, mal eine 4-Tage-Woche, mal eine 5-Tage-Woche. Wer sich statt freie Zeit mehr Geld wünscht, kann den Zuschlag wählen.
“Haben Beschäftigte nichts zu tun, gehen sie meist nicht nach Hause, da sie befürchten, irgendwann eine Zusatzschicht in dem ohnehin vollen Schichtplan machen zu müssen.”
Wir sind der Wandel: Wie rechnet sich die Flexibilität konkret?
Zander: In Schichtsystemen mit einer 40-Stunden-Woche existieren häufig sehr hohe Krankenquoten sowie viele Leerstunden. Führt ein Unternehmen eine 36-Stunden-Woche ein, hat das fast immer Effekte, die die Zeitreduzierung gegenfinanzieren. Ein einfaches Rechenbeispiel demonstriert das: Existiert im Unternehmen eine Krankenquote von 15 Prozent, zeigt die Praxis, dass eine Arbeitszeitverkürzung die Krankenquote sowie die Leerstunden um je fünf bis sechs Prozent reduzieren kann. In starren und dichten Schichtplänen sind nämlich auch Leerstunden ein großes Problem. Haben Beschäftigte nichts zu tun, gehen sie meist nicht nach Hause, da sie befürchten, irgendwann eine Zusatzschicht in dem ohnehin vollen Schichtplan machen zu müssen. Mittlerweile haben wir ein extrem volatiles Umfeld mit Lieferkettenproblemen, die zum Stillstand von Anlagen führen. Wir haben krisenbedingt extreme Auftragsschwankungen. Da sind starre Systeme unglaublich teuer. Daher ist der Deal, kürzere Arbeitszeiten gegen mehr Flexibilität eine gute Alternative, gepaart mit den Wahlmöglichkeiten je nach Lebensphase.
Wir sind der Wandel: Und mit Ihrem Arbeitszeitsystem erreichen Unternehmen diese Flexibilität?
Zander: Wie wir das konkret umsetzen, ist dabei von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich und hängt unter anderem von der Qualifikationsstruktur, vom Durchschnittsalter der Belegschaft, von gelebter Unternehmenskultur, vom Flexibilitätsbedarf, von operativen Prozessen usw. ab. Wir haben noch nie zweimal das gleiche Modell eingesetzt. Vielmehr agieren wir mit einem „Werkzeugkasten“, der individuell zum Einsatz kommt.
Dieser besteht aus den unterschiedlichsten Instrumenten: Ein Tool ist die Personalbedarfsermittlung. Die ist in vielen Unternehmen nur sehr rudimentär vorhanden. Je klarer man einen Personalbedarf ermitteln kann, desto mehr Planungssicherheit kann ermöglicht werden. Denn die Praxis zeigt, dass Unternehmen von ihren Beschäftigten unnötig viel Flexibilität verlangen, wenn sie Auftragssteigerungen durch planbare wiederkehrende Gegebenheiten berücksichtigen müssen.
Ferner berücksichtigen wir bei der Arbeitszeit die Bedürfnisse der Beschäftigten. Das heißt, wir kombinieren die unterschiedlichen Modelle unter Berücksichtigung der Lebensarbeitszeit in den verschiedenen Lebensphasen bis hin zu Vorruhestandsregelungen. Dazu gehört auch das klassische Thema Flexibilisierung von Ort und Zeit mit Zeitkontensystemen und Vertrauensarbeitszeit sowie Homeoffice im White Collar-Bereich und Multiskill-Konzepten in den operativen Bereichen. Multiskill-Konzepte sind vor allem in 2-, 3- und 4-Schichtanlagen sinnvoll. Damit können Beschäftigte an verschiedenen Arbeitsplätzen eingesetzt und die Arbeitszeit stabiler gehalten werden. Gleichzeitig können damit „ungesunde“ Schichten auf mehrere Personen verteilt werden können, so dass eine Entlastung und Gleichbehandlung stattfinden.
Grundsätzlich versuchen wir, Modelle zu entwickeln, bei denen die Beschäftigten Einfluss auf die eigene Arbeitszeit nehmen können. Dazu gehört, dass sie bereits beim Schichtplanschreiben sagen können, wann sie arbeiten möchten. Das macht die Planung zwar etwas komplexer, aber durch die Digitalisierung mit Hilfe von Workforce Management-Systemen ist dieser Aufwand problemlos zu kompensieren.
“Die 4-Tage-Woche hat aus der Unternehmens- und Beschäftigtenperspektive sehr viele Facetten.”
Wir sind der Wandel: Gibt es Branchen, wo die 4-Tage-Woche gut funktioniert?
Zander: Das Handwerk ist geradezu prädestiniert für eine 4-Tage-Woche. Daher gibt es hier aktuell auch viele Modellversuche. Das liegt daran, dass man in Handwerksbetrieben die Möglichkeit hat, die Arbeit auf weniger Tage zu verteilen, bei gleichzeitig längeren Arbeitszeiten pro Tag. Ferner ist es im Handwerk üblich, dass am Freitag um 14 Uhr Feierabend ist. Das heißt, „nur“ die vier Stunden vom Freitag müssen auf die restlichen vier Wochentage verteilen werden. Ferner spart man bei einem Arbeitstag auch An- und Abfahrten zu Kundinnen und Kunden, was ebenfalls Kosten reduziert. Daher rechnet sich dieses Modell in der Regel.
Für Beschäftigte ist es attraktiv, da sie so drei Tage am Stück frei haben, was erholsamer ist, als wenn man mitten in der Woche einen Tag frei hat. Und weil es sich hier um ein 1-Schicht-Modell handelt, ist es auch einfacher zu organisieren. Deshalb ist die 4-Tage-Woche gerade in Handwerksbetrieben sehr populär, weil davon Arbeitgeber und Beschäftigte viele Vorteile haben.
Eine Einschränkung, die ich sehe, sind die körperlich sehr anstrengenden Tätigkeiten im Handwerk. Dann gehen 9-Stunden-Arbeitsstage sehr schnell an die Substanz. Warnen würde ich vor vier Arbeitstagen à zehn Arbeitsstunden. Laut Arbeitszeitgesetz darf man keine Minute länger arbeiten; allerdings auch keine weniger, da man ansonsten nicht auf die Wochenarbeitszeit von 40 Stunden käme. Die Folge wäre ein extrem starres System, denn egal, wie viel zu tun ist, man muss jeden Tag zehn Stunden arbeiten. Das heißt, entweder zehn Stunden Stress oder Däumchen drehen. Beides macht keinen Spaß.
Wir sind der Wandel: Wo liegen die Grenzen einer 4-Tage-Woche?
Zander: Schwierig ist das Modell der 4-Tage-Woche, wenn es um die Besetzung einer Zeitstrecke und nicht um die Produktivität geht. Ein Zug fährt nicht 1 km/h schneller, nur weil der Lokführer kürzer arbeitet. Oder eine Maschine, die in einer gewissen Taktung läuft, arbeitet nicht schneller, nur weil die Leute eine 4-Tage-Woche haben. Und hat man weniger Kapazität und kann das nicht anderweitig durch Prozessoptimierungen auffangen, muss man zusätzliches Personal einstellen. Das kostet Geld, was man sich leisten können muss. Auch kann nicht jedes Unternehmen am Freitag schließen. Das heißt, der freie Tag findet nicht immer an einem Freitag statt, sondern rolliert durch die Woche. Dann ist die Frage, ob die 4-Tage-Woche für Beschäftigte noch ähnlich attraktiv ist wie mit einem 3-Tage-Wochenende.
Und weil die 4-Tage-Woche aus der Unternehmens- und Beschäftigtenperspektive sehr viele Facetten hat, kann es auch keine allgemeingültige Lösung geben, sondern sollte immer im Einzelfall betrachtet werden. Die Kliniken Eisenberg in Thüringen zum Beispiel haben mit Verdi einen speziellen Tarifvertrag ausgearbeitet: Innerhalb von vier Jahren reduziert sich die Arbeitszeit auf 35 Stunden. Dabei verringert sich die Arbeitszeit jedes Jahr aber „nur“ um eine Stunde, bei gleichzeitiger moderater Erhöhung der Löhne. Das halte ich für sehr zielführend, weil es so mehr Zeit für eine Prozessoptimierung gibt, da das System sich peu à peu justiert.
“Die Diskussion wird sehr verfälscht geführt, wenn pauschal behauptet wird, dass sich 80 Prozent der Beschäftigten die 4-Tage-Woche wünschen.”
Wir sind der Wandel: Dabei zeichnen die Studien zur 4-Tage-Woche, die überall zitiert werden, ein extrem positives Bild.
Zander: Die UK-Studie zeigt, dass eine Arbeitszeitverkürzung von 38 auf 34 Stunden stattfand (also von 4,8 auf 4,5 Tage). In Island fand „nur“ eine Arbeitszeitverkürzung von 40 auf 36 Stunden statt, flexibel an fünf Tagen. Ferner fand der Versuch überwiegend in Behörden und Ministerien statt. Die Produktivitätssteigerung erzielte man dabei mit effizienteren Meetings, reduzierten Zeiten in der Kaffeeküche und einem Social Media-Verbot während der Arbeitszeit. Dass man so mit weniger Arbeitszeit den Output halten kann, ist nicht überraschend. Das einzige Krankenhaus, das an der Studie teilgenommen hat, musste jedoch zusätzlich Personal einstellen, weil es den Kapazitätsverlust nicht anderweitig auffangen konnte. Deshalb ist es meiner Meinung nach sehr fragwürdig, wenn diese Studien zum Beweis einer 4-Tage-Woche für alle Branchen herangezogen werden. Denn die zweifelsfrei bewiesenen positiven Effekte in Bezug auf die Reduzierung von Fehlzeiten oder die Steigerung der Mitarbeiterzufriedenheit beziehen sich eben nicht auf eine 32-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich.
Auch wurden Betriebe mit vollkontinuierlichen Schichtmodellen, in denen Anlagen 24/7 laufen, nicht explizit berücksichtigt. In diesen Betrieben haben wir in der Regel bei einer 40-Stunden-Woche mit Krankenquoten von 15 Prozent und mehr. Die Praxis zeigt, dass Unternehmen mit einer 35-Stunden-Woche im Schichtmodell fast immer Krankenquoten unter zehn Prozent haben. Das heißt für mich im Umkehrschluss: Die Wahrscheinlichkeit, dass bei einer Arbeitszeitreduzierung von vier bis fünf Stunden die Krankenquote im Betrieb um etwa fünf bis sechs Prozent reduziert werden kann, ist sehr groß. Ähnlich verhält es sich mit Leerstunden. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass sich eine Arbeitszeitverkürzung von vier Stunden für Unternehmen finanziell rechnet. Was aber nicht funktioniert, ist, diesen Effekt beliebig linear fortzuschreiben – was in den aktuell geführten Diskussionen aber oft passiert. Deshalb glaube ich, dass der Sweet Spot in Schichtsystemen bei einer 35- bis 36-Stunden-Woche liegt. Dann nämlich hat man flexible Arbeitszeiten, niedrige Krankenquoten und trotzdem noch eine relevante Kapazität. Geht man auf eine 32-Stunden-Woche, werden vor allem Unternehmen wie Krankenhäuser oder Pflegeeinrichtungen den Kapazitätsverlust nicht durch Maßnahmen wie Produktivitätssteigerungen oder eine niedrigere Krankenquoten auffangen können.
Außerdem wird die Diskussion meiner Meinung nach sehr verfälscht geführt, wenn pauschal behauptet wird, dass sich 80 Prozent der Beschäftigten die 4-Tage-Woche wünschen. Diese hohe Zustimmung existiert meiner Meinung nach nur dann, wenn die Arbeitszeitreduzierung bei gleichbleibendem Lohn erfolgt. Das sieht anders aus, wenn eine Arbeitszeitreduzierung mit einer Gehaltseinbuße einhergeht, oder die vorhandene Wochenarbeitszeit auf vier Tage verteilt werden würde.